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Autoren, die von 2009 bis 2014 Gast waren bei den Europäischen Literaturtagen.

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[ Buchtipp von Beat Mazenauer ] Der isländische Autor Sjón entführt seine Leser in „Das Gleissen der Nacht“ in eine märchenhafte und zugleich vernunftmässig geordnete Welt. Mit Anlehnungen an den Gelehrten Jon Gudmundsson erzählt das Buch von Jónas Pálmason, der ums Jahr 1600 lebt und wegen seiner Gelehrsamkeit bei den Notabeln in Ungnade fällt. Als gelehrter Altgläubiger erregt er im reformierten Island Argwohn und Hass und wird schliesslich auf ein einsames Felsenriff verbannt, unter Androhung von Strafe für alle, die ihm in irgendeiner Weise beistehen.
Sjón lässt seinen Helden selbst erzählen. Wir begegnen dem 60-Jährigen 1635, vier Jahre der Verbannung liegen bereits hinter ihm. Während er über das isländische „Natterngezücht“, diese „einfältige Schar“ von Neidern und Heuchlern schimpft, sucht er seinen Frieden im Schoss der Natur. Seine Rede richtet sich an einen unscheinbaren Meerstrandläufer, mit dem er als kleiner Bube Freundschaft schloss, als eine vom Himmel flatternde Feder dem fünfjährigen Jónas beim Lesenlernen „als Lesestab“ diente.
„Das Gleissen der Nacht“ zeichnet das Bild eines Gelehrten an der Schwelle zur Epoche der wissenschaftlichen Vernunft. Jónas Pálmason repräsentiert den zarten Empiriker, der auch an die göttliche Allmacht glaubt und sein Wissen demütig in diese einbettet. Er kennt und schätzt die alten Mythen ebenso wie er ihren falschen Flitter entkräftet, wo genaue Kenntnisse es zulassen. Jónas ist ein Alleswisser, der zugleich um die Beschränktheit seines Wissens weiss. Er trägt die Ambivalenz der Vernunft in sich aus, im Gegensatz zu seinen Widersachern, die er der „Freizügelei“ bezichtigt. Deren Moral besteht einzig darin, an Gott zu appellieren, um selbst(süchtig) gegen dessen Gebote zu verstossen. Ihre Grausamkeit ist entsprechend unbarmherzig.
Die Wendezeit um 1600 nimmt Sjón mit einer Sprache in den Blick, die Adäquates versucht: den Spagat zwischen leicht patiniertem Sprachkolorit und ästhetischer Modernität. Auf der einen Seite gelingen ihm grossartige Schilderungen des isländischen Winters, der den armen Jónas bedrückt und quält. Auf der anderen Seite wagt er Szenen, die Mysterien heraufbeschwören und doch rechtzeitig ins Lakonische abbiegen. Dies insbesondere im wunderbaren Prolog: Der Engel Luzifer kehrt von der Jagd zurück und findet den Himmel in Aufruhr. „Er ist tot“ lamentieren die Engel in weiser Voraussicht. Doch Gott lebt (noch), auf seinem Schoss sitzt seine neueste Kreation: der Mensch, der sich gerade ein Stück eigenen Kot in den Mund schiebt und sein erstes Wort „Ich“ von sich gibt. Ihm sollte Luzifer huldigen, doch der weigert sich. „Dafür wurde ich aus dem Himmelreich hinausgeworfen“.
Im Original heisst der Roman „Rökkurbýsnir“ - was mit „die Dämonen der Finsternis“ übersetzt werden kann. Von diesen Dämonen wird der Gelehrte gepeinigt, gehasst und verfolgt. Ihre hinterwäldlerische Dummheit und Schlechtigkeit gebiert finstere Träume. Spätestens bei Jónas' Erinnerung an die freundlichen baskischen Walfänger, die 1613 auf der Insel Gastrecht erhielten, dann aber auf grausamste Weise abgeschlachtet wurden, fragt sich, wer denn in diesem Stück der Teufel sei.
Sjóns Roman ist historisch verortet und zugleich unterschwellig aktualisiert. Geistfeindlichkeit ist noch immer eine scharfe Waffe der falschen Siegelbewahrer der Tradition. Demgegenüber beharrt Sjón auf der Dialektik der Vernunft, was sich auch stilistisch widerspiegelt. Er hält den Stoff sprachlich in magisch-mythischer Schwebe und bettet ihn zugleich in eine unbezweifelbar moderne Konstruktion ein. Der Versuch ist riskant, doch die poetische Synthese gelingt eindrücklich, ohne dass die historische Eigentümlichkeit dabei verloren geht. Mag die eine oder andere Kleinigkeit auch missraten, gemessen am hohen Einsatz fällt dies nicht ins Gewicht. Dieses Buch ist in höchstem Masse anregend – über die Lektüre hinaus.
[ Info ] Sjón, : Das Gleissen der Nacht.
(Rökkorbysnir). (original language: Deutsch)
S. Fischer Verlag,
Frankfurt / M., 2011
(2010).
Übersetzt aus Isländisch von Betty Wahl