Neue Literatur aus Österreich
Incentives - Neue Literatur aus Österreich
readme.cc eröffnet einen mehrsprachigen Zugang zur neuesten österreichischen Literatur. In Kooperation mit dem Literaturhaus in Wien bietet die Leseplattform Einblick in das aktuelle literarische Geschehen des Landes.
LiteraturjournalistInnen und WissenschaftlerInnen stellen aktuelle Neuerscheinungen vor, Leseproben vermitteln kurze Einblicke in die jeweiligen Texte, Kurzporträts der Autorinnen und Autoren ergänzen das Bild.
Das Informationsangebot steht derzeit in fünf Sprachen zur Verfügung: Deutsch, Englisch, Französisch, Tschechisch und Ungarisch.
Das Projekt will zur Internationalisierung österreichischer Literatur beitragen bzw. zur Übersetzung aktueller Texte anregen.
Durchführung: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur (Rezensionen, Autorenporträts) – Übersetzergemeinschaft (Übersetzungen) – readme.cc (Infrastruktur).

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[ Buchtipp von Verena Mock ] „Dies ist die Erzählung von einer Stadt, die dabei ist zu verschwinden.“ (12) Margarete und ihre Schwester Fritzi Stein sind die einzigen Jugendlichen in einem vom Grubenbrand verwüsteten Kohleabbaugebiet. Ihr Vater wacht als Polizeikommandant über die wenigen Bewohner. Die Mutter hat die Familie verlassen. „Unser Erbe ist ein verlassenes Gebiet. Hier herrscht eine grosse Verwüstung, der wir nicht beizukommen wissen.“ (10)
Die Schwestern haben keinen Kontakt zu Menschen ausserhalb des Kohlereviers. Kein Internet. Sie arbeiten nicht, sie studieren nicht. Und shoppen nicht - kein Supermarkt, kein TV. Doch Fritzi und Margarete hauen nicht ab. Sie geben sich selber eine Aufgabe: die Geschichte erforschen. Denn sie vermissen „die Überlieferung einiger Hinweise, ein Anleitung zum Handeln die Zukunft betreffend“ (11). Weder ihre Eltern noch die Schule haben ihnen so etwas mitgegeben. „Wir sind wohl zu spät gekommen“ (10).
Während Fritzi das Gebiet als „Feldforscherin“ kreuz und quer durchwandert, liest Margarete alle vorhandenen Sachbücher – ein privates Sammelsurium, denn es existiert keine öffentliche Bibliothek mehr. Bald ist sie überzeugt, es müsse früher einen Fluss gegeben haben. Mit Hilfe eines Pferdes und eines jungen Mannes finden die Schwestern kurz vor Wintereinbruch den Fluss – oder was sie dafür halten, nämlich ein Loch, in dem Regenwasser verschwindet. Sie überwintern zu dritt in einem verlassenen Berghotel, schreiben Einladungen für ein Fest am Fluss und bringen sie zum Grenzposten. Ob die Briefe je die Aussenwelt erreichen, bleibt offen.
Szenerie und Ausgangslage erinnern mich an „Morbus Kitahara“ von Christoph Ransmayr (1995). Elmiger setzt aber ganz andere Figuren in die Landschaft, ihren Heldinnen fehlt alles Verzweifelte.
Obwohl es vom Grubenbrand verwüstete Gebiete tatsächlich gibt, ist die Erzählung klar als Parabel gestaltet. Der Fluss scheint für das verlorene Wissen zu stehen, das Wissen, wie man als Gemeinschaft etwas verändern kann. Die kleine Stadt für eine überalterte Zivilisation, die ihr Land selber zerstörte. Eine Parabel auf die Gegenwart, wie Elmiger in einem Interview mit der WOZ betont (30.9.10). Die Jugend also arbeitslos, von niemandem gebraucht? Die Jugendlichen einsam, sich selbst überlassen und unfähig, ihr Schicksal an die Hand zu nehmen? Die Einladungen am Ende wären dann so bedeutungsvoll, weil sie die Isolation durchbrechen. Mit wildfremden Menschen einen unsichtbaren Fluss zu feiern – ein Bild für das Wagnis Politik?
Es ist eine überraschende Diagnose. Dass sie das Lebensgefühl der Mehrheit unter den Jugendlichen trifft, glaube ich nicht. Vielleicht das Gefühl jener, die ihre Rolle als Künstlerinnen und Intellektuelle in der Gesellschaft suchen?
„Einladung an die Waghalsigen“ ist weniger ein Roman als ein lyrischer Text, dicht, voller Anspielungen und Zitate. Elmiger hat den siebten Sinn für magische Wörter und die heimliche Poesie der Fachsprache: Grubenlicht, Schluckloch. Sie kann aus einer Aufzählung von Ortsnamen ein Gedicht machen. Das tut sie aber wohldosiert, auf hymnische Beschwörungen folgen knochentrockene, banale Feststellungen. Dieser Wechsel ist sehr vergnüglich – und er lässt die Expedition der beiden Schwestern bis zum Schluss in der Schwebe zwischen Spiel und Ernst.
Als Leserin und Steineggerin wünsche ich mir von dieser Schriftstellerin: Gedichte, Songtexte, Reportagen - und Erzählungen über die Jugendzeit in Appenzell.
[ Lieblingszitat ] „Auf der andern Seite des Schneebergs steht die alte Druckerei. Fritzi und das Pferd haben einen schmalen Weg dorthin gebahnt und auf Skiern, auf Latten und alten Dielen ziehen wir nun die Vervielfältigungsapparate durch den Schnee über den Berg oder um den Berg herum. Auch dem Pferd Bataille haben wir mit klammen Fingern einen Strick um den Bauch gebunden.“ (138)
[ Info ] Elmiger, Dorothee: Einladung an die Waghalsigen.
Dumont,
Köln, 2010
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ISBN: 978-3-8321-9612-7.
Dieses Buch ist ...
Genre: Roman
Stichworte: Gegenwart, Isolation, Jugend, Luxemburg, Parabel, Revolution, Schwestern, Verwüstung, Durruti
Stil: vergnüglich, anspielungsreich, überraschend, lyrische Prosa, poetisch, Spiel mit Zitaten
Sprachen (Buchtipp): Deutsch