
Ein kurzer Aufenthalt drucken
[ Buchtipp von Beat Mazenauer ] Der schwedische Autor und Journalist verlor im Alter von 12 Jahren seinen Vater. Dieser suchte 1960 selbst den Tod, gestorben ist er freilich nicht daran. In ihm nagte eine Angst und Verzweiflung, die von Auschwitz herrührte. Der Zwanzigjährige David Rosenberg entging dem Tod wie durch ein Wunder, das auch Zufall heissen kann. Er überlebte, doch er fand den Weg zurück ins Leben nicht. „Das Überleben ist normalerweise kein andauernder Zustand, sondern ein momentaner“, schreibt Rosenberg, deshalb ist er auf die Länge nicht auszuhalten. Die Vergangenheit verfolgt den Vater wie eine Schatten, der mehr und mehr über seine Seele kriecht, auch wenn er geradezu heroisch versucht, lebensfroh und zukunftsgerichtet zu sein. Es hilft alles nichts.
Die Vergangenheit wird nicht mit dem Gedächtnis erforscht, zitiert Rosenberg einen Satz von Walter Benjamin, das Gedächtnis ist vielmehr der Schauplatz des Erinnerns. Göran Rosenberg versucht in seinem Buch eine wunderbar behutsame, feinfühlige und kluge Annäherung an seinen Vater, indem er Stück für Stück seinen Weg durch die Hölle ins vermeintliche Paradies im schwedischen Södertälje nachzeichnet und reflektiert. „Ich brauche jedes Bruchstück, das sich auftreiben lässt, damit du nicht vor meinen Augen verschwindest.“ Das individuelle Schicksal wird dabei zur Repräsentation einer historischen Katastrophe, die Rosenberg bis in die feinsten Verästelungen von behördlichen Schikanen und menschlicher Niedertracht ausleuchtet. Dabei lässt er sich nie zu vorschnellen Urteilen hinreissen. Mit Fragen nach dem woher und wohin verfolgt er akribisch den Weg nach, den sein Vater von Auschwitz in eine Arbeitslager der Firma Büssing führte und von da in den letzten Kriegstage kreuz und quer durch Norddeutschland, bis er und seine Leidensgenossen endlich befreit wurden.
Wäre nicht alles so elend traurig, reizten einzelne Episoden auch zum Lachen. Im schwedischen Lager Överryd heissen die befreiten Männer geradezu modern „ehem. Konzentrationslager-Klienten“. Hin und wieder verrät Rosenberg leise einen ätzenden Sarkasmus, wenn es beispielsweise um die „Unverschämtheiten“ der Täter geht. Sie bringen den Vater schliesslich um. Mitte der 1950er Jahre stellt er beim deutschen Staat Antrag auf Wiedergutmachung. Die deutschen „Vertrauensärzte“ – Ärzte waren ohnehin eine der treusten Berufsgruppen im 3. Reich – attestieren im zwischen den Zeilen jedoch, dass er simulieren. Das war schwer zu ertragen, wie der Abschiedsbrief kundtut: „Ich bin nicht imstande, mit einer solchen Qual, die niemand nachempfinden kann, zu leben und zu kämpfen.“
So beeindruckend und tiefgründig diese Recherche ist, eine grosse drängende Frage indes hinterlässt sie: Wo bleibt die Mutter? Göran Rosenberg verliert aus unerfindlichen Gründen über sie nur wenige Worte, sie bleibt weitgehend eine irritierende Leerstelle.
[ Lieblingszitat ] „Die unverschämte Lüge löst den Boden auf unter Dingen, die man nicht vergessen kann, und verwandelt ihn in Treibsand“
[ Info ] Rosenberg, Göran: Ein kurzer Aufenthalt.
(original language: Deutsch)
Rowohlt Berlin,
Berlin, 2013
(2012).
Übersetzt aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer