Neue Literatur aus Österreich
Incentives - Neue Literatur aus Österreich
readme.cc eröffnet einen mehrsprachigen Zugang zur neuesten österreichischen Literatur. In Kooperation mit dem Literaturhaus in Wien bietet die Leseplattform Einblick in das aktuelle literarische Geschehen des Landes.
LiteraturjournalistInnen und WissenschaftlerInnen stellen aktuelle Neuerscheinungen vor, Leseproben vermitteln kurze Einblicke in die jeweiligen Texte, Kurzporträts der Autorinnen und Autoren ergänzen das Bild.
Das Informationsangebot steht derzeit in fünf Sprachen zur Verfügung: Deutsch, Englisch, Französisch, Tschechisch und Ungarisch.
Das Projekt will zur Internationalisierung österreichischer Literatur beitragen bzw. zur Übersetzung aktueller Texte anregen.
Durchführung: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur (Rezensionen, Autorenporträts) – Übersetzergemeinschaft (Übersetzungen) – readme.cc (Infrastruktur).

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[ Buchtipp von Incentives ]
Wie tief ist ganz unten?
Wo beginnt der Absturz? Wie tief ist unten? Fragen, die allein diejenigen stellen, die sich längst im freien Fall befinden. Menschen wie die Bewohner der Langfeldsiedlung, für die Angst der einzige Lebensantrieb und Hoffnung ein Wort ohne jede Bedeutung ist. Ein betongrauer Ort zwischen Bahngleisen, Mülldeponie und Wohnwagenburgen mit Rumänen oder Bulgaren im Niemandsland am Fluss. Hinter der Friedhofsmauer die Metallcontainer der Obdachlosen. Wer hier aufwächst, hat schon mit seiner Geburt verloren.
In der Langfeldsiedlung haben die Menschen keine Namen. Sie heißen „die Hinterhoffrau“ mit dem Kretin oder „der Einbeinige“. Auch die Mutter des namenlosen Erzählers kennt man hier im Block. Man schickt ihm eine SMS, wenn sie es nach der Arbeit vom Absacker mit den Kolleginnen mal wieder nicht bis nach Hause geschafft hat. In der Wohnung trinkt sie weiter, bis sie auf dem Küchentisch im eigenen Erbrochenen einschläft, wo sie liegen bleibt bis zum Morgen. Hauptsache, sie lässt ihn in Ruhe – ihren Sohn, den sie im Suff ihre „Ballastexistenz“ schimpft.
Der namenlose Junge kennt Gefühle nur im selbst zugefügten Schmerz. Wenn beim Umfassen der heißen Glühbirne die Haut verbrennt oder ihre Scherben die Innenhand zerschneiden. Liebe ist ein nicht fühlbares Wort. Liebe, das sind die weißen Flecken, die nach ihrem Selbstmord von den abgehängten Fotografien der Mutter an den Wänden zurückbleiben. Oder einer der Kassabons, auf deren Rückseite die Mutter Tagebuch führte, um sie danach zu verbrennen. „Wie schmeckt ‚ohne Aussicht‘?“ steht auf ihrem letzten Zettel. Am Ende bleibt von ihr nur eine kurze Todesnachricht unter „Vermischtes“.
Die Bitternis darüber kontert der Autor mit zärtlich genauen Sätzen über die „Zukurzgekommenen“. Im Erzählen gibt er ihnen eine Geschichte und damit ihre Würde zurück. Als wolle der Autor mit seiner zärtlichen Beschreibung so sachte und achtsam wie möglich über die gnadenlose soziale Realität streicheln, um sie – wenigstens für einige Wörter lang – zu erlösen. Dolgans eindringliche, dichte Sprache zeugt von außergewöhnlicher Beobachtungsgabe und ist von einer poetischen Treffsicherheit und psychologischen Tiefe, die man in dieser Präzision und Reife bei einem so jungen Autor nicht erwartet. Dolgans Debüt „Ballastexistenz“ ist ein dunkles, ein knallhartes, ein richtig gut geschriebenes Buch.
Kurzfassung der Rezension von Michaela Schmitz, November 2013
Originalversion: http://www.literaturhaus.at/index.php?id=10125
[ Info ] Dolgan, Christoph: Ballastexistenz.
(original language: Deutsch)
Droschl Verlag,
Graz, 2013
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ISBN: 978-3-854208-42-6.
Dieses Buch ist ...
Genre: Roman
Sprachen (Buchtipp): Englisch, Deutsch, Französisch, Tschechisch, Ungarisch