
Verfrühte Tierliebe l'imprimer
[ Recommandation de Erich Fried Preis ]
Katja Lange-Müller ist eine virtuose Sprachartistin, wie sie auch in ihrem 1995 erschienenen Prosaband „Verfrühte Tierliebe“ beweist.
Der Titel spielt auf eine zweifach unerwiderte Tierliebe an. Eine Pirsch in die freie Natur wird für die jugendliche Protagonistin zur schrecklichen Enttäuschung. Ihr kauziger Begleiter hetzt sie bis zur Ermüdung über Wiesen und Auen, um ihr zum Abschluss ein Vortrag über Systematik und Selbstbeherrschung bei der Naturbeobachtung zu halten. Kein Wort dagegen von Lust und Freude. Auf dieselbe Weise versucht auch der öde Schulbetrieb die jugendliche Phantasie der Ich-Erzählerin abzutöten. Phantasie ist weder erwünscht noch geduldet, dies zeigt sich spätestens, als sie eine ererbte Käfersammlung mit schöpferischem Mutwillen bearbeitet: nicht gottgleich, sondern juvenil spielerisch für den anziehenden Biologie-Lehrer. Doch der, ganz sture Autoritätsperson, weist den linkischen Annäherungsversuch als Provokation und „Verrat an der Wissenschaft“ zurück. Angesichts solch pflichteifriger Sturheit verfliegt die verfrühte Tierliebe. Einfühlsam, mit grosser stilistischer Kraft beschreibt Katja Lange-Müller die „trostlose, entsetzliche Einsamkeit“ der Jugendlichen, die auf solche Phantasielosigkeit nur mit Verweigerung reagieren kann.
So scheint die zweite Erzählung, die ein paar Jahre später spielt, eine Folge dieser Enttäuschung. Die Erzählerin wird bei einem ihrer „kleptomanischen Anfälle“ ertappt und von einem dubiosen Warenhausdetektiv in ein Kellerbüro abgeführt. Obgleich eine Kleinigkeit, geht es ums Prinzip, behauptet dieser. Doch bevor ein Protokoll unterzeichnet ist, verschwindet er spurlos und lässt die Frau im feuchten Reich der Asseln zurück. Die Überwachung endet in einer Farce, die paradoxerweise funktioniert, weil alle Respekt vor ihr haben und sich gleichsam selbst überführen.
Katja Lange-Müller erzählt so distanziert und überlegt, wie ihre Protagonistin die Mechanik des absurden Geschehens betrachtet; eines Geschehens, dessen Funktionieren „man möglicherweise erst begreift, wenn man die Maschine total vor Augen hat“. Auf diese Weise gelingt es, eine existentielle Beklemmung sprachlich erfahrbar zu machen. Die Erzählerin scheitert zweimal am Leben, doch die Wachheit ihrer Sinne weckt die Hoffnung, dass sie dereinst die Probe bestehen wird. Phantasie und Naivität brechen immer wieder die trübe Ernsthaftigkeit ihrer Widersacher auf und erweisen sich so ihrer autoritären Pflichtschuldigkeit als weit überlegen.
[ Info ] Lange-Müller, Katja: Verfrühte Tierliebe.
(original language: Deutsch)
Kiepenheuer & Witsch,
Köln, 1995
.