Documentary Fiction
Documentation of literary Documentary Fiction
Die Europäischen Literaturtage 2013 diskutierten den Bereich des dokumentarischen Romans. Das dazu eröffnete Archiv versammelt Buchempfehlungen von readme.cc Usern. Besprechungen, die unter dem Stichwort "Roman" abgespeichert werden, erweitern das Archiv

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Ein anderes Leben
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt הגדל את התמונה[ המלצה מאת Beat Mazenauer ] Wie hat es dazu kommen können? Wann haben sich die Zeichen verdichtet? Immer wieder stellt Per Olov Enquist in seiner grandiosen Autobiografie „Ein anderes Leben“ diese Fragen. Er versucht zu verstehen, wie er aus einer glücklichen Kindheit in Nordschweden in die Hölle der Trinkerei abstürzen konnte. Im ersten Teil, der mit „Unschuld“ überschrieben ist, stellt er das Elternhaus vor, seine Mutter, eine pietistische Lehrerin, den früh verstorbenen Vater, und seinen bösen brüderlichen Schatten. Zwei Jahre vor Per Olov gebar die Mutter einen Jungen, der denselben Namen erhielt, doch gleich nach der Geburt verstarb. „Vielleicht war es dieser Totjunge, der gute und liebe, der nicht soff“, den die anderen geliebt haben, mutmasst der Autor viel später.
Das beharrliche Suchen nach Antwort tötet alle nostalgische Verklärung ab. Die eigene Person rückt Enquist in die dritte Person, um Distanz zu gewinnen. So unterzieht er sein Leben einer strengen, nüchternen Analyse – und bleibt dennoch ein grossartiger, empfindsamer, aufwühlender Erzähler. Der Weg aus dem kleinen Dorf in die Stadt, zuerst Uppsala, später Stockholm, fällt dem netten nordländischen Jungen nicht leicht. Er leidet unter dem anerzogenen „Fluch des Liebseins“. Schreibend schwankt er zwischen Selbstzweifel und bald sich einstellenden Erfolgen. Die historische Recherche „Die Ausgelieferten“ trägt ihm 1968 erstes Lob ein und weckte die Lust an der Politik. Acht Jahre später wird sein Drama „Die Nacht der Tribaden“ am Broadway gespielt – allerdings ohne Erfolg, wie Enquist virtuos schildert.
Beide Ereignisse bilden zentrale Angelpunkte der Erfahrung, die den Autor Enquist unweigerlich jenem Punkt zutreiben, wo die Zeichen der Krise sich verdichten. Literarischer Ruhm, eine neue Liebe in Kopenhagen, und die Scheidung, die Leichtigkeit des einsamen Trinkens. Letzteres anerkennt der Trinker selbst nicht als Sucht, sondern beschönigt es lieber als poetisches Experiment, das jedoch mehr und mehr ausser Kontrolle gerät, bis es in einen freien Fall mündet. Enquist beschreibt dies mit peinigender Schonungslosigkeit. Wieviel hält ein Mensch aus, wie tief kann er sinken?
„Ein anderes Leben“ ist ein ungeheuer reiches, menschlich bewegendes Buch, das seine Leser am Ende mit rührender Erleichterung entlässt. „Und er wusste, dass er gerettet war“, lautet der abschliessende Satz, mit ihm sind es auch die Lesenden. Seit 1991 ist Per Olov Enquist trocken. Dafür sprudelt seither seine literarische Schaffenskraft förmlich über.
[ מידע על ספרים ] Enquist, Per Olov: Ein anderes Leben.
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. (original language: Deutsch)
Hanser Verlag,
München, 2009
(2008).