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Herz der Finsternis.
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. הגדל את התמונה[ המלצה מאת Martin Reiterer ]
Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ („Heart of Darkness“, 1899) ist ein vom ersten bis zum letzten Satz durchkomponiertes Werk[1], das seine Zeit mitschreibt wie es zugleich gegen sie anschreibt und schließlich durch sie hindurch noch in die Zukunft reicht. Es gehört wohl zu den dichtesten kürzeren Texten der Weltliteratur.
Die Dichte des Textes bezieht sich sowohl auf die sprachlichen als auch strukturellen Verknüpfungen wie auf die impliziten vielschichtigen Lesarten. Ein geradezu undurchdringliches Gefüge an symbolischen Bedeutungen, oftmals durchsetzt von mythologisch aufgeladenen Bildern, hält den Text komprimiert in sich zusammen. Hervorstechen insbesondere die durchgehenden Metaphern des Lichts und des Schattens, der Helligkeit und des Dunkels, die den Text von allen Seiten her durchwuchern – gleichsam beleuchten und verdunkeln – und bereits programmatisch dem Titel des Buchs subtil eingeschrieben sind: Das implizite Leuchten des Herzens flackert freilich nur kurz auf und schlägt noch im nächsten (oder im selben?) Moment um in Finsternis. Die Erzählung dagegen ist nahezu Seite um Seite durchzogen von Kontrasten und Graduierungen des Strahlens, Scheinens, Schimmerns sowie der Dunkelheit, der Düsterkeit und der Schwärze. Dem Sog der Finsternis steht eine Dialektik des Lichts und des Schattens gegenüber – die Zuordnungen von hell und dunkel sind verschiebbar, umstülpbar und dialektisch umkehrbar: Dann erscheint der strahlende Glanz als gleißendes Blendwerk, die Lichtgestalten gleichsam mit Blindheit geschlagen.
Marlow, der Erzähler der zentralen Geschichte bezeichnet sich selbst als „Sendbote des Lichts“[2]. Auf einer Jacht namens Nellie erzählt er vor einer Zuhörergruppe von englischen Geschäftsleuten – darunter auch der Ich-Erzähler der Rahmengeschichte – seine Erlebnisse auf einer Reise in den Kongo und entlang des Kongoflusses, die sich allmählich als eine Aneinanderreihung tief greifender Schocks herausstellen sollte, als eine „Pilgerfahrt durch angedeutete Alpträume“ (27). Zu der Selbstbezeichnung als Bote des Lichts kommt es, da Marlow im Auftrag einer europäischen Handelsgesellschaft, Standort Brüssel, reist und dabei als Kolonialist im Dienste einer höheren Idee und Mission stehe.[3] Gerade diese Idee sei es, die den modernen Kolonialismus, ob nun britischer oder belgischer Provenienz, adle. Der Kolonialismus bringe somit das Licht der Zivilisation in Welt hinaus.
Kompliziert & komplex bleibt der Text ebenso aufgrund einer überraschend vertrackten Verschachtelung der Rahmen- und Binnenerzählung, wodurch klare, eindeutige Verortungen der Text-/Autor-Intentionen inmitten sich widersprechender Erzählerabsichten aufs Äußerste erschwert werden. Durch weitere Einschiebungen dritter Erzählerfiguren werden Uneindeutigkeiten verstärkt und der Inhalt der Erzählung und deren Protagonisten zunehmend in die Ferne gerückt. Je weiter die Erzählung voranschreitet, desto geheimnisvoller, ominöser und ungreifbarer, wird paradoxer Weise das, was erzählt wird. Schließlich scheint es sich als grundlegende ästhetische Strategie des Autors zu erweisen, dass hier „weniger erzählt als vielmehr angedeutet“ wird. Entsprechend erhöhen sich die Verdichtungen zwischen den Zeilen und zwischen den Erzähler-Positionen, in den Rissen und offenen Stellen dieses raffiniert konstruierten Erzählwerks.
Conrads Erzählung enthält schließlich eine Reihe ineinander geschichteter Bezüge, Subtexte und Lesarten. Im Jahr 1990 reiste Conrad selbst als Seemann im Auftrag der belgischen Kolonialgesellschaft in den Kongo, eine Erfahrung, die ihm die Augen öffnete und ihn in die Lage versetzte – wenngleich erst ein knappes Jahrzehnt nach seinen traumatischen Erlebnissen –, seinen Roman „Herz der Finsternis“ zu verfassen. Dass auch der Erzähler, Seemann und Abenteurer Marlow Charakteristika des Autors aufweist, ist nur eine der direkten autobiografischen Bezüge. Vor allem aber ist es unerlässlich, den historischen Hintergrund, auf dem „Herz der Finsternis“ spielt, zu zitieren. Denn hier geht es um eine der brutalsten Ausformungen des Kolonialismus, eine ins Groteske gesteigerte systematische Ausbeutung und Ausplünderung einer gesamten (wenngleich in sich sehr diversen) Bevölkerung, die durch die Bezeichnung „Kongogräuel“ zumindest angedeutet werden kann.
Der tatsächlich offiziell und zynisch so genannte Kongo-Freistaat war eine Privatkolonie des Belgischen Königs Leopold II. und wurde 1885, im Anschluss an die Berlin Konferenz 1884/85 und unter Einbindung aller europäischen Großmächte als solche an den Besitzer übergeben. Unter dem Deckmantel hehrster Ziele und der Vorspiegelung philanthropischer Absichten[4], schließlich aber auch unter dem enormen Einsatz entsprechender Werbestrategien gelang es König Ludwig II. und seiner Kongogesellschaft, die imperialistischen Zwecke ebenso zu kaschieren wie die gezielten Verbrechen (organisierte Zwangsarbeit und Sklaverei, methodisches Hände-Abhacken, Geiselhaft, Folter, Vergewaltigung u. a.) und schließlich Massenmorde wirksam vor der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit geheim zu halten oder kleinzureden. Conrads „Herz der Finsternis“ gehört somit zu den ersten Werken, welche die entsetzlichen Vorgänge im Kongo-Freistaat thematisierten und in diesem Sinne auch von den zeitgenössischen LeserInnen wahrgenommen wurden. Das Bild der Kolonialisten, das Marlow entwirft, ist unmissverständlich gekennzeichnet von Grausamkeit einerseits und Unorganisiertheit andererseits, das Land erscheint wie eine riesige Deponie für unnützen Zivilisationsmüll. Die Angestellten der belgischen Kolonialgesellschaft sind fast durchwegs raffgierige, skrupellose Gestalten, die auf ihrer Jagd nach Elfenbein und Kautschuk sich von jeglichem Anspruch auf Menschlichkeit befreit haben. Von der hohen Idee und ihrer Verknüpfung mit Effizienz, die – gemäß dem in der Erzählung eingangs aufgestellten Postulat – den modernen Kolonialismus von früheren, barbarischen Formen der Eroberung & Unterwerfung unterscheiden sollte, ist nur noch ein schwarzer Schatten sichtbar.
Erst im Jahre 1908 kommt das Terror-Regime zu Fall: Nach einer jahrelangen Kampagne und nur gegen die allerheftigsten Widerstände gelang es dem Journalisten und Aktivisten Edmund Dene Morel und seinem Mitarbeiter Roger Casement in einer der ersten Menschenrechtsorganisationen die Zwangsarbeitersituation und die Massenmorde im Kongo aufzudecken und somit Druck auf den Belgischen König zu machen, bis er schließlich die Kolonie an den Belgischen Staat abgeben musste. Dem berühmten Casement-Bericht (1904), in dem der Verfasser im Auftrag der britischen Regierung die katastrophalen Zustände im Kongo beschreibt und dokumentiert, folgten weitere Pamphlete und Anklagen renommierter Autoren, darunter Mark Twains „King Leopold’s Soliloquy“ (1905) und Arthur Conan Doyles „The Crime of the Congo“ (1909). Aus dem Kongo-Freistaat wird 1908 Belgisch-Kongo, bestimmte Formen der Grausamkeit verschwinden, die Zwangsarbeit wird 1910 abgeschafft. Dass Conrad Casement im Kongo kennen lernte, bezeichnet er in seinem „Kongo-Tagebuch“ als „ein[en] richtige[n] Glücksfall“[5], 1903 schreibt er in einem Brief über Casement und dessen Kongo-Erfahrung: „Er könnte Ihnen Dinge erzählen! Dinge, die ich mich zu vergessen bemüht habe, Dinge, die ich nie gewußt habe.“[6]
Conrads Erzählung erscheint auch in einem Kontext der Verdrängung und Aufdeckung, die Reise in den Kongo gestaltet sich als traumatische Reise ins Unterbewusste.[7] Diese Lesart drängt sich insbesondere im Zusammenhang mit der zentralen Figur des Romans auf. Mr. Kurtz – berühmt für seine letzten Worte „Das Grauen! Das Grauen!“ (132) – ist gleichsam die personifizierte Un-/Gestalt des Ungreifbaren, des ständig sich Entziehenden des Romans: nur eine (innere?) Stimme, nur ein Schatten. Sein Bild changiert zwischen unerreichtem Ideal und dessen totaler Umkehrung. Als ominöser erfolgreichster Agent der Gesellschaft besetzt er die letzte Station entlang des Flusses: „Im Innern werden Sie zweifellos Kurtz kennenlernen.“ Die Begegnung mit Kurtz wird zur Begegnung mit dem eigenen Unterbewussten, allerdings ein „Blick über den Abgrund“ (133). Denn Kurtz hat sich zum Gott der Schwarzen aufgeschwungen, zum Abgott des Elfenbeins: Kurtz, „Elfenbeingesicht“ (132), Inkarnation seiner eigenen Gier & Begierde, letztlich des Objekts seiner Begierde. Indem er sich die Riten der Schwarzen zu eigen gemacht und sie sich unterworfen hat, ist er allerdings selbst in den „Bann der Wildnis“ (125) geraten. So erscheint Kurtz als Inbegriff einer entfesselten wütenden Dialektik einer gleißenden Blendung, um den Begriff der Finsternis anders auszudrücken. Doch Kurtz, in dem man nicht nur ein Porträt des Belgischen Königs erkennen kann, sondern dessen Name auch einen verschlüsselten Verweis auf den Autor (ursprünglich Józef Teodor Konrad Korzeniowski) selbst enthält, bleibt schillernd.
Obwohl Conrad also „ein wüstes Gesamtbild der belgischen Kolonie“[8] zeichnet, finden sich dennoch zumindest stereotype Beschreibungen Schwarzer im Text. Das hat den (2002 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten) nigerianischen Autor Chinua Achebe 1975 veranlasst, in seiner mittlerweile berühmten Rede an der Universität Massachusetts einen ausdrücklichen Rassismusvorwurf gegenüber Conrads „Heart of Darkness“ zu erheben und den Autor als „bloody racist“ zu bezeichnen.[9] Mit diesem Angriff auf einen heiligen Text der Weltliteratur zündete Achebe eine „cultural bomb“[10], die schließlich eine Zäsur in der Conrad-Rezeption markiert. Später war es Edward Said, der die postkoloniale Kritik an Conrad differenzierter formulierte. Achebes aufbrausende, doch keineswegs unelegant formulierte Kritik muss dennoch zurückgewiesen werden: Dabei ist mit Jan H. Hauptmann und seiner rezenten Untersuchung zu Achebes Rassismusvorwurf festzuhalten, dass der Erzähler Marlow durchaus ein „ganz gewöhnlicher Imperialist“ ist, dessen Erzählweise sich allerdings – entsprechend Conrads komplexer Verschachtelung der Erzählsituationen – dadurch kennzeichnet, „dass die sonst im Innern einer Erzählung zu suchende Bedeutung buchstäblich aus dem Rahmen fällt und damit außerhalb des Bewusstseins der in ihrem Wissenshorizont eingeschränkten Figuren liegt“.[11] Conrads Ablehnung des Kolonialismus seiner Zeit dagegen äußert sich in Form subversiver Kritik. Trotzdem bleibt Achebes provokativer Einwurf bedeutsam im Kontext von Conrads Kongo-Roman – als unübersehbares Zeichen, dass Afrika, wie es sein Recht ist, im Sinne von Michel Leiris „zurückschreibt“.
Literatur:
Chinua Achebe: An Image of Africa: Racism in Conrad’s Heart of Darkness. In: Chinua Achebe: Hopes and Impediments. Selected Essays. New York: Achor Books, 1990, S. 1-29
Sir Roger Casement: Der Kongo-Bericht [Congo Report]. In: Rolf Italiaander (Hg.): König Leopolds Kongo. Dokumente und Pamphlete von Mark Twain, Edmund D. Morel, Roger Casement. München: Rütten + Loening Verlag, 1964, S. 198-262.
Joseph Conrad: Herz der Finsternis. Mit dem „Kongo-Tagebuch“ und dem „Up-river Book“. Aus dem Englischen neu übersetzt und mit einem Nachwort von Urs Widmer. München: Piper Verlag, 8. Aufl. 2008
Arthur Conan Doyle: The Crime of the Congo. London: Hutchinson, 1909
Rolf Italiaander (Hg.): König Leopolds Kongo. Dokumente und Pamphlete von Mark Twain, Edmund D. Morel, Roger Casement. München: Rütten + Loening Verlag, 1964
Jan H. Hauptmann: Aspekte der postkolonialen Conrad-Rezeption. München: Akademische Verlagsgemeinschaft AVM, 2008
Mark Twain: King Leopold’s Soliloquy. A Defense of His Congo Rule. Boston: The P. R. Warren Co., 2. Aufl. 1905 (auf Dt. siehe etwa: Mark Twain: König Leopolds Selbstgespräch. Eine Verteidigung seiner Herrschaft über dem Kongo. Mit einem Vorwort und einem Anhang von E. D. Morel. In: Rolf Italiaander, a. a. O., S. 13-92.)
[1][1] „Herz der Finsternis“ wird abwechselnd als Roman, Erzählung oder auch als Novelle bezeichnet. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden.
[2] Seitenzahlen fortan in Klammern nach dem Zitat. Hier, S. 24.
[3] Obwohl im Text weder Kongo noch Brüssel genannt werden, gilt es als unumstritten, dass es sich um den Kongo handelt, damals Congo Free State, Kolonie des Belgischen Königs Leopold II.
[4] Offiziell ging es um die Erforschung und „Zivilisierung“ des Kongo, das Land sollte unter anderem von der Sklaverei befreit werden. Insgesamt war von Austausch, Handelsunternehmen und vertraglichen Abmachungen die Rede.
[5] Joseph Conrad: Herz der Finsternis. Mit dem „Kongo-Tagebuch“ und dem „Up-river Book“. Aus dem Englischen neu übersetzt und mit einem Nachwort von Urs Widmer. München: Piper Verlag, 82008, S. 153.
[6] Zit. nach: Rolf Italiaander (Hg.): König Leopolds Kongo. Dokumente und Pamphlete von Mark Twain, Edmund D. Morel, Roger Casement. München: Rütten + Loening Verlag, 1964, S. 193.
[7] Auch der sexuelle Subtext der abenteuerlichen Reise ist bemerkenswert bildhaft, die Landschaft selbst ist lesbar als eine „ins Gigantische vergrößerte Frau“, der Kongofluss als überdimensionale Vagina. Cf. Urs Widmer, Nachwort. In: Conrad, Joseph: Herz der Finsternis. Mit dem „Kongo-Tagebuch“ und dem „Up-river Book“. Aus dem Englischen neu übersetzt und mit einem Nachwort von Urs Widmer. München: Piper Verlag, 82008, S. 204.
[8] Jan H. Hauptmann: Aspekte der postkolonialen Conrad-Rezeption. München: Akademische Verlagsgemeinschaft AVM, 2008, S. 50.
[9] Chinua Achebe: An Image of Africa: Racism in Conrad’s Heart of Darkness. In: Chinua Achebe: Hopes and Impediments. Selected Essays. New York: Achor Books, 1990, S. 1-29. Hierbei handelt es sich um eine leicht veränderte Version der Rede, in der Achebe Conrad nunmehr „a thoroughgoing racist“ bezeichnet anstelle der ursprünglichen Bezeichnung „a bloody racist“, cf. Jan H. Hauptmann, a. a. O., S. 3.
[10] Ich übernehme den Ausdruck „cultural bomb“ von Jan H. Hauptmann, a. a. O., S. 2. Der Begriff wurde von dem kenianischen Autor Ngũgĩ wa Thiong’o geprägt, bezogen auf imperialistische Hauptwaffe gegen kollektive Herausforderungen. Im Kontext mit Achebes Rede hat Nicolas Tredell dieses Bild umgekehrt verwendet als Mittel kollektiver Herausforderung.
[11] Jan H. Hauptmann, a. a. O., S. 79. Der entsprechende Hinweis findet sich in Conrads Text selbst, so lässt der Autor den Rahmenerzähler über Marlow sagen: „Doch Marlow war nicht typisch [...] und die Bedeutung einer Begebenheit lag für ihn nicht im Innern wie der Kern, sonder außerhalb, sie umfing die Geschichte, die sie sichtbar machte, wie Licht einen Dunst, ähnlich dem nebligen Hof, den die Streuung des Mondscheins von Zeit zu Zeit zum Vorschein bringt.“ (11)
[ ציטוט אהוב ] Ganz Europa hatte bei Kurtz' Entstehung mitgewirkt [...].
[ מידע על ספרים ] Conrad, Joseph: Herz der Finsternis..
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz.. (original language: Englisch)
Deutscher Taschenbuch Verlag,
München, 2009
(1901).
ISBN: 978-3-423-19131-9.