Mit der letzten Klausur hielt der Sommer Einzug in Kasachstan. Beinahe über kletterte das Thermometer. Statt über Büchern hingen die Studenten lieber am Baggersee, bei Eis oder so manch kaltem alkoholischem Getränk.
Alexej und Luna hatten sich den Kommilitonen nicht angeschlossen. Abseits von den üblichen Orten, an denen sich die studierenden Einwohner Quostanays trafen, hatten sie einen kleinen, versteckt gelegenen Weiher gefunden, wo sie ungestört schwimmen konnten. Eigentlich hatte Luna ihn durch Zufall entdeckt. Der immer etwas vorsichtige Alexej war zunächst skeptisch gewesen.
„Da ist aber schnelle etwas passiert. Das ist ein alter Baggersee und die Schlingpflanzen … also ich weiß nicht…“
Luna hatte ihm nur beruhigend auf die Schulter geklopft. „Ich bin doch bei dir. Da kann überhaupt nichts geschehen.“ Sie mühte sich, jeden Zynismus aus ihrer Stimme fernzuhalten. Der Tod als Beschützer. Der Bock als Gärtner.
Seine Zeit war noch nicht abgelaufen. Niemand wusste das besser als sie. Sein Namensvetter lebte indes munter weiter in den Tag hinein und machte sich offensichtlich wenig Gedanken darüber, dass seine Uhr ablief. Die richtige Adresse hatte sie nun. Ein simpler Zahlendreher hatte sein erbärmliches Leben verlängert. Allerdings wurde es auch langsam Zeit, dass er abtrat.
Alexej stieg aus dem Weiher. Das Wasser perlte von seiner Haut. Luna lag dösend in der Sonne. Leise pirschte er sich an sie heran und küsste sie unerwartet stürmisch. Sie fuhr hoch und schrie kurz auf. „Oh, ist das kalt“, keuchte sie. „Nimm deine kalten Froschfinger von mir“, wehrte sie lachend ab.
„Komm zu mir ins Wasser“, neckte er. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, so dass sie blinzeln musste. „Ich habe so schön geschlafen“, beschwerte sie sich. Alexej zog sie am Arm mit sich hoch. „Schlafen können wir noch genug, wenn wir tot sind“, widersprach er. Ihr unbehaglicher Blick ließ sein Lächeln zu einer Grimasse verzerren.
„Luna, was ist mit dir los?“, rief er. In den letzten beiden Wochen hatte sie sich sehr verändert. Natürlich war sie vorher schon anders gewesen, aber das hatte ihn ja so sehr fasziniert, doch sie schien sich regelrecht zurückzuziehen und oftmals schwang in ihrer Stimme ein Hauch von Sarkasmus mit, wenn sie ihm antwortete. Er hatte diese Veränderungen auf die bevorstehenden Klausuren geschoben. Der ganze Stress war mit Sicherheit auch nicht spurlos an Luna vorüber gegangen, doch jetzt war alles geschrieben. Ändern konnten sie jetzt nichts mehr und ein paar Tage freie Zeit hatten sie sich verdient, bevor sie wieder lernen mussten. Der kurze Sommer sollte genutzt werden. Vielleicht hatte es auch etwas mit dem Job zu tun, den sie vor kurzem angenommen hatte.
Luna stand auf. „Nicht. Es ist nichts“, antwortete sie, vermied aber dabei, ihn anzusehen. Alexej packte sie an der Schulter und zwang sie ihn anzuschauen. „Luna, du bist so seltsam in der letzten Zeit.“ Seine Stimme klang belegt, als hätte er einen Knoten im Hals.
„Es ist nichts“, wiederholte Luna stoisch und starrte auf einen Punkt über seiner rechten Schulter.
„Oder ist es wegen deiner neuen Arbeitsstelle?“, forschte er nach. „Irgendetwas belastet dich doch.“
Er war nicht einverstanden gewesen. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie sich voll und ganz auf ihr Studium konzentriert hätte, doch sie argumentierte, dass ihr Stipendium knapp bemessen war und sie dringend auf den kleinen Nebenverdienst angewiesen war. Solange er selbst noch studierte, konnte er ihr auch nicht helfen. „Scheiß Situation“, fluchte Alexej innerlich.
„Ja, ganz genau. Es ist wegen der neuen Arbeit“, gab Luna ein wenig zu schnell zu. „Das ist alles.“
Sie nahm ihn bei der Hand. „Komm lass uns noch eine Runde schwimmen gehen“, wechselte sie das Thema.
Nur zu gerne ließ er sich überreden, doch ein kleiner Zweifel über ihre wahre Identität blieb.
„Meine Eltern haben uns eingeladen.“ Alexej las die Whats App Nachricht laut vor. „Du kommst doch mit. Meine Mutter kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.“
Die beiden standen in der Gemeinschaftsküche des Studentenwohnheims. Luna trocknete gerade den letzten Teller ab. Sie stellte ihn in den Schrank zurück und faltete sorgfältig das Handtuch, bevor sie antwortete.
„Deine Eltern wissen von mir?“ Sie schien überrascht. Der Gedanke, dass er seiner Familie von ihrer Beziehung erzählt hatte, war ihr noch nicht gekommen. Immerhin war sie nicht wie andere Frauen und mit Sicherheit auch nicht die Schwiegertochter, die Eltern sich wünschten. Aber das konnte Alexej natürlich nicht wissen. Er interpretierte ihr Zögern falsch. „Ist das ein Problem für dich, meine Familie kennenzulernen?“ Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen.
„Nein. Nein“, beschwichtigte sie ihn. „Es ist nur so…Mmmh...naja…“ Sie suchte nach den passenden Worten. Der Zeitpunkt ihn über ihr wahres Ich aufzuklären, wäre jetzt günstig. Schon seit Tagen zerbrach sie sich den Kopf. Er hatte ein Recht darauf, zu erfahren, wer sie wirklich war.
Die Zornesfalte wich dem strahlenden Kinderlächeln, das sie so sehr an ihm liebte. Er drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Du hast Angst, sie könnten dich nicht mögen?“ In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Erstaunen und Belustigung mit. Luna zuckte nur die Achseln und senkte den Blick. „Mmmh…schon“, antwortete sie ausweichend. Ihr Freund zog sie in die Arme. „Sie werden dich lieben. Das verspreche ich dir.“
Niemand liebt den Tod, dachte Luna im Stillen, doch seinen Enthusiasmus wollte sie auch nicht bremsen.
Seine Familie holte die beiden am Bahnhof ab. Die Zugfahrt hatte lange gedauert und Luna streckte die steifen Glieder, als sie endlich aufstehen konnte. Alexej hatte fast während der gesamten Fahrt geschlafen, den Kopf in ihrem Schoß. Sie wurden freudig begrüßt. Seine Eltern schlossen sie in die Arme, als würde sie seit Jahren zu der Familie gehören. Sein Vater fasste sie unter dem Kinn. „Den guten Geschmack hat er eindeutig vom Vater geerbt.“
„Sergej!“, sagte die Mutter tadelnd und stieß ihren Mann in die Seite, dann umarmte sie Luna. „Willkommen in der Familie, Liebes.“ Unwillkürlich musste Luna schlucken, hinter ihren Augäpfeln begann es zu brennen.
„Wo sind Mascha und Großmutter?“, fragte Alexej, während sie zu viert Richtung Ausgang schlenderten. Angeführt von der Mutter, die sie anführte wie eine Gänsemutter ihre Küken. Die Bahnsteige waren voll von Menschen, die ihre Lieben entweder zum Bahnhof brachten oder sie am Zug abholten. Ein Signal ertönte, ein Zug fuhr ab, während der nächste mit leisen Summen in den Bahnhof einfuhr.
„Großmutter war zu schwach und Mascha ist bei ihr geblieben“, erklärte Alexejs Mutter.
Sie hat eindeutig die Hosen an, dachte Luna belustigt. Die energische Frau mit den kurzen, hellbraunen Haaren und etwas fülligen Hüften hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Sie gingen auf einen dunkelblauen Geländewagen zu, der seine besten Zeiten auch schon erlebt hatte. Der Vater öffnete die Klappe des Kofferraums und verstaute das Gepäck. Außerhalb der Menschenmenge fiel Luna auf, dass Bondarenko Senior ziemlich groß gewachsen war. Im Gegensatz zu seinem Sohn, der es zu seinem Leidwesen nur auf knapp einen Meter siebzig brachte. Luna und Alexej kletterten auf die Rückbank. Seine Hand tastete nach ihrer und hielt sie fest. Er starrte aus dem Fenster. „Wie lange noch?“, fragte er unvermittelt.
„Schatz“, seine Mutter, die auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich zu ihm um. Sie wusste direkt, dass er seine Großmutter meinte. „Wir wissen es nicht. Sie wird immer schwächer von Tag zu Tag und irgendwann kommt für uns alle der Abschied.“ Sie sprach in einem ruhigen Tonfall. Erstaunt blickte Luna auf, während ihr Freund mit der Faust gegen die Armatur schlug. „Ich will das nicht. Verdammt noch mal! Ich will sie nicht gehen lassen.“
Luna rutschte nervös hin und her. Lisa Bondarenko, dreiundneunzig Jahre und seit fast dreißig Jahren Witwe. Ein langes und erfülltes, das mit viel Gesundheit geprägt war.
„Ich kann sie nicht gehen lassen“, flüsterte Alexej und Luna hörte die Tränen, die er nur mühsam unterdrückte.
Bald schon würde sie die Großmutter mitnehmen, auch wenn sie ihrem Geliebten damit das Herz brach.
Der Geländewagen rumpelte über die ungeteerte Straße. Luna nutzte die Gelegenheit und verringerte den Abstand zwischen sich und ihrem Freund. Der Sicherheitsgurt spannte und wollte nicht nachgeben.
„Alexej“, sagte sie leise. „Wenn Menschen so alt geworden sind, dann sind sie meist auch bereit, zu gehen.“ Der Versuch, ihn zu trösten, misslang.
Seine großen, blauen Augen wurden dunkel vor Zorn. „Was weißt du schon?“, presste er hervor.
„Alexej“, mahnte der Vater.
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung“, fauchte Alexej. Luna biss sich auf die Lippen und schwieg. Menschen konnten nur schwer mit dem Tod umgehen. Sie ließ zu, dass er seinen Schmerz an ihr austobte.
„Du kennst sie ja nicht einmal“, fuhr fort. Zornig stieß er ihre Hand weg. „Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, wirklich zu lieben.“ Die letzten Worte stieß er kalt zwischen den Zähnen hervor. Für Luna kam es einen Schlag ins Gesicht gleich.
„Das geht jetzt aber wirklich zu weit“, mischte sich der Vater hinter dem Steuer ein.
Doch Alexej ignorierte seine Worte. „Von dir und deiner Familie weiß ich überhaupt nichts. Es ist, als ob sie nicht existieren“, brach es aus ihm heraus. „Großmutter will bei uns bleiben und nicht gehen.“ Das letzte Wort betonte er voller Zynismus. Eine solche Heftigkeit kannte Luna nicht von ihrem sonst eher zurückhaltenden Freund.
Langsam sollte der Wagen einen schmalen, mit Wildblumen gesäumten Weg entlang. Ein Haus aus massiven Baumstämmen kam in Sicht. Hühner liefen gackernd umher. Noch ehe das Auto stand, hatte Alexej die Tür aufgerissen und stürzte eine Veranda hoch. In einem Schaukelstuhl saß eine alte zahnlose Frau, die trotz der Sommerhitze eine bunte Flickendecke über die Knie gelegt hatte. Alexej ging neben ihr in die Hocke. Die Frau lächelte und strich ihm zärtlich mit ihrer knorrigen Hand durchs Haar. Ein junges Mädchen von etwa sechzehn, brachte auf einem Tablett Gläser.
Luna blieb zurück. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, zu stören. Schließlich blieb ihr ja noch mehr als genug Zeit, die Großmutter kennenzulernen. Sergej rief nach ihr. Er winkte sie zu sich, doch sie tat, als habe sie ihn nicht bemerkt.
Hinter dem Haus befand sich ein Stall. Auf einer umzäunten Fläche dösten zwei Kühe und ein brauner Wallach in der Abendsonne. Ein besonders dreister Hahn mit langen grünen Schwanzfedern pickte zu Lunas Füßen. Laut kläffend schoss ein gefleckter Mischlingshund aus dem Stall und scheuchte den Hahn, dass die Federn flogen. Luna konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Sie kletterte auf den Zaun, der aus einfachen Baumstämmen grob gezimmert war. Sie lockte den Wallach, doch er schlug nur mit dem Schweif die Fliegen weh und beachtete die dargebotene Hand nicht.
Die Balken begannen zu schwanken. Reflexartig klammerte Luna sich fest, während zwei Arme sie von hinten packten.
„Entschuldigung“, flüsterte ihr eine vertraute Stimme ins Ohr. „Kannst du einem sturen Ochsen verzeihen?“
Unwillkürlich musste sie kichern. Sie wandte den Kopf und drückte Alexej einen Kuss auf die Lippen. Er schwang ein Bein über die oberste Sprosse und saß ihr rittlings gegenüber. „Ich hätte nicht so ausrasten dürfen“, fuhr er fort. „Es ist nur so, dass Babuschka Mascha und mich praktisch aufgezogen hat, nachdem unsere Eltern so viel arbeiten mussten.“ Er verstummte.
Luna legte eine Hand auf seinen Unterarm. Seine Haut fühlte sich glatt und warm an. Sie spürte das Leben in seinem jungen Körper pulsieren.
„Viele Menschen hadern mit dem Tod. Aber gehört nun einmal zum Leben dazu. Genauso wie die Geburt, die mit deutlich mehr Schmerzen verbunden ist, aber als freudiges Ereignis gefeiert wird.“
Ein trauriges Lächeln flog über Alexejs Gesicht. „Manchmal denke ich, du bist schon hundert Jahre als, wenn ich dich so reden höre.“
„Bisschen drüber schon“, antwortete sie grinsend und wurde ernst. Sie hatte nicht gelogen. Forschend schaute er sie an.
„Vielleicht hat das auch etwas mit meiner Arbeit zu tun“, beeilte Luna sich zu sagen.
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du da genau machst.
„Sterbebegleitung.“ Luna war erstaunt, wie leicht ihr die Lügen über die Lippen kamen.
Doch eigentlich waren es keine Lügen. Sie sagte die Wahrheit, nur mit anderen Worten.
Alexej und Luna hatten sich den Kommilitonen nicht angeschlossen. Abseits von den üblichen Orten, an denen sich die studierenden Einwohner Quostanays trafen, hatten sie einen kleinen, versteckt gelegenen Weiher gefunden, wo sie ungestört schwimmen konnten. Eigentlich hatte Luna ihn durch Zufall entdeckt. Der immer etwas vorsichtige Alexej war zunächst skeptisch gewesen.
„Da ist aber schnelle etwas passiert. Das ist ein alter Baggersee und die Schlingpflanzen … also ich weiß nicht…“
Luna hatte ihm nur beruhigend auf die Schulter geklopft. „Ich bin doch bei dir. Da kann überhaupt nichts geschehen.“ Sie mühte sich, jeden Zynismus aus ihrer Stimme fernzuhalten. Der Tod als Beschützer. Der Bock als Gärtner.
Seine Zeit war noch nicht abgelaufen. Niemand wusste das besser als sie. Sein Namensvetter lebte indes munter weiter in den Tag hinein und machte sich offensichtlich wenig Gedanken darüber, dass seine Uhr ablief. Die richtige Adresse hatte sie nun. Ein simpler Zahlendreher hatte sein erbärmliches Leben verlängert. Allerdings wurde es auch langsam Zeit, dass er abtrat.
Alexej stieg aus dem Weiher. Das Wasser perlte von seiner Haut. Luna lag dösend in der Sonne. Leise pirschte er sich an sie heran und küsste sie unerwartet stürmisch. Sie fuhr hoch und schrie kurz auf. „Oh, ist das kalt“, keuchte sie. „Nimm deine kalten Froschfinger von mir“, wehrte sie lachend ab.
„Komm zu mir ins Wasser“, neckte er. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, so dass sie blinzeln musste. „Ich habe so schön geschlafen“, beschwerte sie sich. Alexej zog sie am Arm mit sich hoch. „Schlafen können wir noch genug, wenn wir tot sind“, widersprach er. Ihr unbehaglicher Blick ließ sein Lächeln zu einer Grimasse verzerren.
„Luna, was ist mit dir los?“, rief er. In den letzten beiden Wochen hatte sie sich sehr verändert. Natürlich war sie vorher schon anders gewesen, aber das hatte ihn ja so sehr fasziniert, doch sie schien sich regelrecht zurückzuziehen und oftmals schwang in ihrer Stimme ein Hauch von Sarkasmus mit, wenn sie ihm antwortete. Er hatte diese Veränderungen auf die bevorstehenden Klausuren geschoben. Der ganze Stress war mit Sicherheit auch nicht spurlos an Luna vorüber gegangen, doch jetzt war alles geschrieben. Ändern konnten sie jetzt nichts mehr und ein paar Tage freie Zeit hatten sie sich verdient, bevor sie wieder lernen mussten. Der kurze Sommer sollte genutzt werden. Vielleicht hatte es auch etwas mit dem Job zu tun, den sie vor kurzem angenommen hatte.
Luna stand auf. „Nicht. Es ist nichts“, antwortete sie, vermied aber dabei, ihn anzusehen. Alexej packte sie an der Schulter und zwang sie ihn anzuschauen. „Luna, du bist so seltsam in der letzten Zeit.“ Seine Stimme klang belegt, als hätte er einen Knoten im Hals.
„Es ist nichts“, wiederholte Luna stoisch und starrte auf einen Punkt über seiner rechten Schulter.
„Oder ist es wegen deiner neuen Arbeitsstelle?“, forschte er nach. „Irgendetwas belastet dich doch.“
Er war nicht einverstanden gewesen. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie sich voll und ganz auf ihr Studium konzentriert hätte, doch sie argumentierte, dass ihr Stipendium knapp bemessen war und sie dringend auf den kleinen Nebenverdienst angewiesen war. Solange er selbst noch studierte, konnte er ihr auch nicht helfen. „Scheiß Situation“, fluchte Alexej innerlich.
„Ja, ganz genau. Es ist wegen der neuen Arbeit“, gab Luna ein wenig zu schnell zu. „Das ist alles.“
Sie nahm ihn bei der Hand. „Komm lass uns noch eine Runde schwimmen gehen“, wechselte sie das Thema.
Nur zu gerne ließ er sich überreden, doch ein kleiner Zweifel über ihre wahre Identität blieb.
„Meine Eltern haben uns eingeladen.“ Alexej las die Whats App Nachricht laut vor. „Du kommst doch mit. Meine Mutter kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.“
Die beiden standen in der Gemeinschaftsküche des Studentenwohnheims. Luna trocknete gerade den letzten Teller ab. Sie stellte ihn in den Schrank zurück und faltete sorgfältig das Handtuch, bevor sie antwortete.
„Deine Eltern wissen von mir?“ Sie schien überrascht. Der Gedanke, dass er seiner Familie von ihrer Beziehung erzählt hatte, war ihr noch nicht gekommen. Immerhin war sie nicht wie andere Frauen und mit Sicherheit auch nicht die Schwiegertochter, die Eltern sich wünschten. Aber das konnte Alexej natürlich nicht wissen. Er interpretierte ihr Zögern falsch. „Ist das ein Problem für dich, meine Familie kennenzulernen?“ Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen.
„Nein. Nein“, beschwichtigte sie ihn. „Es ist nur so…Mmmh...naja…“ Sie suchte nach den passenden Worten. Der Zeitpunkt ihn über ihr wahres Ich aufzuklären, wäre jetzt günstig. Schon seit Tagen zerbrach sie sich den Kopf. Er hatte ein Recht darauf, zu erfahren, wer sie wirklich war.
Die Zornesfalte wich dem strahlenden Kinderlächeln, das sie so sehr an ihm liebte. Er drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Du hast Angst, sie könnten dich nicht mögen?“ In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Erstaunen und Belustigung mit. Luna zuckte nur die Achseln und senkte den Blick. „Mmmh…schon“, antwortete sie ausweichend. Ihr Freund zog sie in die Arme. „Sie werden dich lieben. Das verspreche ich dir.“
Niemand liebt den Tod, dachte Luna im Stillen, doch seinen Enthusiasmus wollte sie auch nicht bremsen.
Seine Familie holte die beiden am Bahnhof ab. Die Zugfahrt hatte lange gedauert und Luna streckte die steifen Glieder, als sie endlich aufstehen konnte. Alexej hatte fast während der gesamten Fahrt geschlafen, den Kopf in ihrem Schoß. Sie wurden freudig begrüßt. Seine Eltern schlossen sie in die Arme, als würde sie seit Jahren zu der Familie gehören. Sein Vater fasste sie unter dem Kinn. „Den guten Geschmack hat er eindeutig vom Vater geerbt.“
„Sergej!“, sagte die Mutter tadelnd und stieß ihren Mann in die Seite, dann umarmte sie Luna. „Willkommen in der Familie, Liebes.“ Unwillkürlich musste Luna schlucken, hinter ihren Augäpfeln begann es zu brennen.
„Wo sind Mascha und Großmutter?“, fragte Alexej, während sie zu viert Richtung Ausgang schlenderten. Angeführt von der Mutter, die sie anführte wie eine Gänsemutter ihre Küken. Die Bahnsteige waren voll von Menschen, die ihre Lieben entweder zum Bahnhof brachten oder sie am Zug abholten. Ein Signal ertönte, ein Zug fuhr ab, während der nächste mit leisen Summen in den Bahnhof einfuhr.
„Großmutter war zu schwach und Mascha ist bei ihr geblieben“, erklärte Alexejs Mutter.
Sie hat eindeutig die Hosen an, dachte Luna belustigt. Die energische Frau mit den kurzen, hellbraunen Haaren und etwas fülligen Hüften hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Sie gingen auf einen dunkelblauen Geländewagen zu, der seine besten Zeiten auch schon erlebt hatte. Der Vater öffnete die Klappe des Kofferraums und verstaute das Gepäck. Außerhalb der Menschenmenge fiel Luna auf, dass Bondarenko Senior ziemlich groß gewachsen war. Im Gegensatz zu seinem Sohn, der es zu seinem Leidwesen nur auf knapp einen Meter siebzig brachte. Luna und Alexej kletterten auf die Rückbank. Seine Hand tastete nach ihrer und hielt sie fest. Er starrte aus dem Fenster. „Wie lange noch?“, fragte er unvermittelt.
„Schatz“, seine Mutter, die auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich zu ihm um. Sie wusste direkt, dass er seine Großmutter meinte. „Wir wissen es nicht. Sie wird immer schwächer von Tag zu Tag und irgendwann kommt für uns alle der Abschied.“ Sie sprach in einem ruhigen Tonfall. Erstaunt blickte Luna auf, während ihr Freund mit der Faust gegen die Armatur schlug. „Ich will das nicht. Verdammt noch mal! Ich will sie nicht gehen lassen.“
Luna rutschte nervös hin und her. Lisa Bondarenko, dreiundneunzig Jahre und seit fast dreißig Jahren Witwe. Ein langes und erfülltes, das mit viel Gesundheit geprägt war.
„Ich kann sie nicht gehen lassen“, flüsterte Alexej und Luna hörte die Tränen, die er nur mühsam unterdrückte.
Bald schon würde sie die Großmutter mitnehmen, auch wenn sie ihrem Geliebten damit das Herz brach.
Der Geländewagen rumpelte über die ungeteerte Straße. Luna nutzte die Gelegenheit und verringerte den Abstand zwischen sich und ihrem Freund. Der Sicherheitsgurt spannte und wollte nicht nachgeben.
„Alexej“, sagte sie leise. „Wenn Menschen so alt geworden sind, dann sind sie meist auch bereit, zu gehen.“ Der Versuch, ihn zu trösten, misslang.
Seine großen, blauen Augen wurden dunkel vor Zorn. „Was weißt du schon?“, presste er hervor.
„Alexej“, mahnte der Vater.
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung“, fauchte Alexej. Luna biss sich auf die Lippen und schwieg. Menschen konnten nur schwer mit dem Tod umgehen. Sie ließ zu, dass er seinen Schmerz an ihr austobte.
„Du kennst sie ja nicht einmal“, fuhr fort. Zornig stieß er ihre Hand weg. „Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, wirklich zu lieben.“ Die letzten Worte stieß er kalt zwischen den Zähnen hervor. Für Luna kam es einen Schlag ins Gesicht gleich.
„Das geht jetzt aber wirklich zu weit“, mischte sich der Vater hinter dem Steuer ein.
Doch Alexej ignorierte seine Worte. „Von dir und deiner Familie weiß ich überhaupt nichts. Es ist, als ob sie nicht existieren“, brach es aus ihm heraus. „Großmutter will bei uns bleiben und nicht gehen.“ Das letzte Wort betonte er voller Zynismus. Eine solche Heftigkeit kannte Luna nicht von ihrem sonst eher zurückhaltenden Freund.
Langsam sollte der Wagen einen schmalen, mit Wildblumen gesäumten Weg entlang. Ein Haus aus massiven Baumstämmen kam in Sicht. Hühner liefen gackernd umher. Noch ehe das Auto stand, hatte Alexej die Tür aufgerissen und stürzte eine Veranda hoch. In einem Schaukelstuhl saß eine alte zahnlose Frau, die trotz der Sommerhitze eine bunte Flickendecke über die Knie gelegt hatte. Alexej ging neben ihr in die Hocke. Die Frau lächelte und strich ihm zärtlich mit ihrer knorrigen Hand durchs Haar. Ein junges Mädchen von etwa sechzehn, brachte auf einem Tablett Gläser.
Luna blieb zurück. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, zu stören. Schließlich blieb ihr ja noch mehr als genug Zeit, die Großmutter kennenzulernen. Sergej rief nach ihr. Er winkte sie zu sich, doch sie tat, als habe sie ihn nicht bemerkt.
Hinter dem Haus befand sich ein Stall. Auf einer umzäunten Fläche dösten zwei Kühe und ein brauner Wallach in der Abendsonne. Ein besonders dreister Hahn mit langen grünen Schwanzfedern pickte zu Lunas Füßen. Laut kläffend schoss ein gefleckter Mischlingshund aus dem Stall und scheuchte den Hahn, dass die Federn flogen. Luna konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Sie kletterte auf den Zaun, der aus einfachen Baumstämmen grob gezimmert war. Sie lockte den Wallach, doch er schlug nur mit dem Schweif die Fliegen weh und beachtete die dargebotene Hand nicht.
Die Balken begannen zu schwanken. Reflexartig klammerte Luna sich fest, während zwei Arme sie von hinten packten.
„Entschuldigung“, flüsterte ihr eine vertraute Stimme ins Ohr. „Kannst du einem sturen Ochsen verzeihen?“
Unwillkürlich musste sie kichern. Sie wandte den Kopf und drückte Alexej einen Kuss auf die Lippen. Er schwang ein Bein über die oberste Sprosse und saß ihr rittlings gegenüber. „Ich hätte nicht so ausrasten dürfen“, fuhr er fort. „Es ist nur so, dass Babuschka Mascha und mich praktisch aufgezogen hat, nachdem unsere Eltern so viel arbeiten mussten.“ Er verstummte.
Luna legte eine Hand auf seinen Unterarm. Seine Haut fühlte sich glatt und warm an. Sie spürte das Leben in seinem jungen Körper pulsieren.
„Viele Menschen hadern mit dem Tod. Aber gehört nun einmal zum Leben dazu. Genauso wie die Geburt, die mit deutlich mehr Schmerzen verbunden ist, aber als freudiges Ereignis gefeiert wird.“
Ein trauriges Lächeln flog über Alexejs Gesicht. „Manchmal denke ich, du bist schon hundert Jahre als, wenn ich dich so reden höre.“
„Bisschen drüber schon“, antwortete sie grinsend und wurde ernst. Sie hatte nicht gelogen. Forschend schaute er sie an.
„Vielleicht hat das auch etwas mit meiner Arbeit zu tun“, beeilte Luna sich zu sagen.
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du da genau machst.
„Sterbebegleitung.“ Luna war erstaunt, wie leicht ihr die Lügen über die Lippen kamen.
Doch eigentlich waren es keine Lügen. Sie sagte die Wahrheit, nur mit anderen Worten.