Es trieb ihn zurück ins Aphelion. Abend für Abend. Der bärtige Barkeeper schenkte ihm bereits ein, wenn er seinen roten Irokesen sah. Er trank immer das gleiche. Er wollte die Begegnung mit Maze reproduzieren. Sich nochmal so lebendig und frei fühlen wie in jener Nacht. Der Kerl ging ihm nicht aus dem Kopf. Seine krassen blauen Augen, deren Farbton viel zu intensiv war, um echt zu sein. Gleichzeitig wirkten sie viel zu echt, um Cyberware zu sein. Vielleicht war ihm sein Blick auch nur deshalb so irreal vorgekommen, weil das Synth seine Wahrnehmung verzerrt hatte. Der ganze Abend war irreal gewesen. Ein flirrender Tanz über einem schwarzen Abgrund. Fuck, war das wirklich passiert?
Die meisten Typen vergaß er schon am nächsten Tag. Das Gefühl von Maze‘ kühlem Körper hatte sich dagegen in seine Fingerspitzen eingebrannt. Einen unwirklichen Moment lang hatte er geglaubt, Maze sei kein Mensch, was ihn umso mehr erregt hatte. Vielleicht hatte er sich das Metall unter seinen Händen auch nur eingebildet. Egal, wer oder was der Wirehead war, er wollte ihn wiedersehen.
Doch Maze ließ sich nicht mehr blicken. Nach zwei Wochen zweifelte Red an seinem Verstand. Auch wenn er inzwischen sicher war, dass der Wirehead echt war, er war noch nie einem Kerl hinterhergelaufen. Auf Maze zu warten, fühlte sich trotzdem richtig an. Denn so hatte er ein Ziel. Etwas, das ihn von Liz und ihrem geschundenen, toten Körper ablenkte. Und darüber hinwegtäuschte, dass er immer noch keine Idee hatte, wie er effektiv gegen Alterreal vorgehen sollte. Was kann ein Niemand wie du schon ausrichten?
Beinahe drei Wochen vergingen, bis er Maze entdeckte. Allein an seinem Tisch, das fast volle Glas vor sich. Die Hände tanzten über das Deck, genau wie damals. Seine seltsam blauen Augen überblickten die brechend volle Bar, sahen durch Tänzer und Trinker hindurch. Red glitt von seinem Hocker, ging langsam zu ihm rüber. Ließ sich bewusst Zeit, um den Wirehead in Ruhe zu betrachten. Er trug wieder die lange, schwarze Stoffjacke, die seinen schmalen Körper betonte. In seinem linken Ohr steckte ein Cone aus dunkelblauem Stahl. Red überlegte, ob er den kegelförmigen Ohrring mit seiner Zunge herausziehen könnte.
Maze bemerkte ihn nicht. Auch nicht, als er direkt vor ihm stand. Oder er ignorierte ihn, so wie damals. Red grinste und beugte sich über den Tisch. „Hi.“
Der Wirehead blinzelte. Starrte ihn an – nein, durch ihn hindurch. Und sagte etwas, womit er nicht gerechnet hatte. „Oh shit!“
„Was zum ..?“
Maze riss den Kopf nach unten. Eine Kugel fetzte in die Wandverkleidung hinter ihm. Kunststoffsplitter spritzten Red entgegen. Chaos brach aus. Leute kreischten. Waffen wurden gezogen. Verfluchte Scheiße. Er reagierte instinktiv, zückte die Desert Eagle und packte den Wirehead am Arm. Riss ihn auf die Beine und zerrte ihn Richtung Ausgang. Panische Menschen gaben ihnen Deckung. Der Türsteher kam ihnen entgegen. Wohl um nachzuschauen, wer da drin rumballerte.
Als sie hinaus ins Zwielicht der Nacht stolperten, schnappte Red nach Luft. „Fuck! Was war das?“
Maze hatte inzwischen ausgesteckt und verstaute sein Deck im Innern seiner langen Jacke. „Alterreal.“ Er war so leise, Red hätte ihn fast nicht verstanden. Doch dieses eine Wort ließ alle Alarmglocken in ihm schrillen.
„Warum …“ Weiter kam er nicht. Im Augenwinkel sah er den heruntergekommen Kerl mit der Kanone und riss Maze zur Seite. Ein heißer Schmerz fetzte in seinen Arm. Die Lederjacke war hinüber. Na toll. Red biss die Zähne zusammen und rannte los. Zerrte den Wirehead hinter sich her, der scheinbar unbewaffnet war. Verdammt. Warum hatte er keine Knarre bei sich, wenn diese Sekte hinter ihm her war? Und warum hatte Alterreal es auf Maze abgesehen?
Er musste ihn hier wegbringen. Alles andere konnte warten. Red überlegte fieberhaft, wie er zu seiner Bude kommen konnte. Ohne Verfolger am Arsch. Sein Blick irrte umher. Sie mussten runter von der Straße. Eintauchen in die Schatten. Maze fügte sich schweigend seinem Kommando. Sie bogen mehrmals ab, um ihrem Verfolger keine Orientierung zu geben. Erst nach zehn Minuten fiel ihm auf, dass der Typ nicht mehr hinter ihnen war. Gar nicht gut. Da stimmt was nicht.
Maze atmete schwer. War einen solchen Sprint wohl nicht gewohnt.
„Geht’s?“, fragte Red.
Der Wirehead nickte. „Ich …“ Er riss die Augen auf. „Drohne!“
Sie ließen sich fallen. Entgingen knapp einer Schusssalve. Fuck, die fahren aber große Geschütze auf. Red rollte sich auf den Rücken und zielte auf den fliegenden Todbringer. Jetzt würde sich zeigen, ob der Chinese ihn verarscht hatte. Damit kannst du Drohnen vom Himmel ballern, hatte er gesagt. Ganz easy. Red zielte. Atmete tief ein. Aus. Drückte ab. Die Drohne zerbarst zu einem rauchenden Feuerball, der Metall und Plastik spuckte.
„Wow“, meinte Maze.
Red hatte das Gefühl, zu ersticken. „Wir müssen hier weg!“
Damit hatten die Wichser nicht gerechnet. Bis sie eine weitere Drohne am Start hatten, würden sie weg sein. Abgetaucht in der ewigen Finsternis des Sprawl. Red nahm trotzdem einen Umweg. Sicher war sicher.
Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, konnte er wieder durchatmen. Keiner hatte sie verfolgt. Hatten wohl daran zu knabbern, dass ein Punk ihre Drohne gekillt hatte. Red ging davon aus, dass sie bei ihm vorerst sicher waren. Der hohe Adrenalinspiegel veranlasste ihn dazu, dämlich zu grinsen. Fuck. Sie waren beide am Leben. Oh man …
Während Red noch atemlos an der Tür lehnte, schaute sich Maze in seiner Bude um. Ließ den Blick über die spärliche Einrichtung und die leeren Nudelpackungen am Boden gleiten. Kramte sein Deck aus seiner zerschlissenen Jacke und bettete es mitsamt den Glasfasern auf den Wohnzimmertisch. Schloss das schicke Teil an die Steckdose an. Ein Samsung Xtasy, soweit Red das erkennen konnte. Kein Modell, dass er aus der Werbung kannte.
Der Wirehead zog die Jacke aus und warf sie aufs Sofa.
„Darf ich?“ Er zeigte auf den schwarzen Futon.
„Klar.“
Erschöpft sank er auf die Matratze. Legte sich auf den Rücken und streckte die Arme aus. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Sein linker Arm sah anders aus als der rechte. Perfekter. Red setzte sich zu ihm, sah zu, wie sich sein Brustkorb noch immer viel zu schnell hob und senkte. Tastete nach seiner linken Hand, strich vorsichtig mit den Fingerkuppen über seinen Handrücken. Spürte eine Weichheit, die zu kalt für menschliche Haut war.
„Silikon?“, fragte Red.
Maze rollte sich auf die Seite. Sah ihm ins Gesicht. „Ja.“
„Unfall?“
„So ähnlich.“
Red glitt neben ihn, ertränkte sich in den unnatürlich blauen Augen. Streckte die Finger aus und berührte sachte die blassen Lippen. Fühlte sich warm an. Menschlich. Seine Hand wanderte tiefer, spürte kaltes Metall unter dem dünnen Stoff des schwarzen Shirts. Maze verstand, setzte sich auf und zog es sich über den Kopf. Red schluckte. Sein Oberkörper war ein Mosaik aus organischem und künstlichem Gewebe. Haut, Silikon und silbern glänzendes Metall, da, wo der Kunststoff abgeblättert war.
Er spürte seinen Herzschlag im Hals. „Bist du ein Mensch?“
Maze grinste. „So ähnlich.“
Ihre Lippen fanden sich von allein. Es durchpulste Red wie ein Stromschlag. Ihre Flucht verblasste zu einem trüben Schatten, während er sich und dem Wirehead die Klamotten vom Leib schälte.
„Dein Arm blutet“, stellte Maze fest.
„Macht nichts.“ Red rollte sich auf ihn. Küsste sanft seinen Hals und spürte, wie warme und kalte Finger über seine Rücken kratzten. Seine Nerven flirrten, als er sich in ihm versenkte und fortgerissen wurde. Wie damals. Die Anspannung zerbarst und für wenige, fragile Augenblicke gab es nichts als das pure Verlangen nach Nähe.
Danach lehnten sie beide atemlos an der Wand. Maze hatte seine Wunde versorgt und ihm dem Arm verbunden. Nun beobachtete Red die Neonschlieren, die durch die Jalousie drangen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ob er etwas sagen sollte. Es irritierte ihn, dass Maze so gelangweilt aussah, obwohl er vor wenigen Momenten noch unter ihm gestöhnt hatte.
„Alles okay?“, fragte Red.
„Ja.“
Verdammt, er schaute ihn nicht einmal an. Red beugte sich vor, versuchte in seiner ausdruckslosen Miene zu lesen. Keine Chance. Gerade noch waren sie eins gewesen und jetzt schien ihm Maze so weit entfernt, dass er erneut an seiner Menschlichkeit zweifelte.
Red sah ihn lange an und fragte schließlich: „Was bist du, Maze?“
„Ist schwer zu erklären.“
„Versuch’s.“
Der Wirehead sah ihn endlich an. Scannte sein Gesicht. Und lächelte. Nur kurz. „Mein Vater war Priester bei Alterreal, also war ich auch dabei. Hab Firmennetzwerke gehackt, war aber kein Gläubiger. Ist alles nur ne miese Show.“ Er seufzte. „Ich war gut, hab keine Fragen gestellt. Und als ich sie gestellt hab, wars zu spät.“ Er fuhr sich durchs Haar und sah schrecklich hilflos dabei aus. „Hab versucht, was aus dem System zu stehlen und hatte Stress mit einer KI. Ungewöhnlich aggressiv. War ganz schön erstaunt, als ich gemerkt hab, dass wir das gleiche Ziel hatten.“
„Was für ne KI?“
„Phage. Er hat sich die gleichen Fragen gestellt. Ich konnts selbst kaum glauben. Wir wollten zusammenarbeiten, aber die haben uns entdeckt. Phage musste fliehen – und steckt nun hier drin.“ Maze tippte sich an die Schläfe.
„In deinem Kopf?“
„Hab viel Technik im Hirn. Alterreal brauchte jemanden, der weiter ging als andere. Hatte viele Operationen, viele Verbesserungen. So konnte ich Phage in mir verstecken, aber irgendwas ging schief. Unsere Persönlichkeiten überlagern sich.“
„Krass.“ Wirkte Maze deswegen so seltsam distanziert, obwohl er ihn ganz nah ranließ? Red schaute ihm in die Augen, versuchte irgendein Zeichen der Künstlichen Intelligenz hinter dem unnatürlichen Blau zu erkennen. „Du glaubst also, diese KI …“ er suchte nach den richtigen Worten „… hat so etwas wie ein Bewusstsein?“
„Ich weiß es.“
Wow, das war echt schräg. „Und Phage und du seid … verschmolzen?“
„So ähnlich.“ Der Wirehead schien zu überlegen, wie er seinen Geisteszustand in Worte fassen sollte. Er schien einen stummen Monolog zu führen – oder einen Dialog mit Phage. Red wartete geduldig. Das war zu abgefahren. Wahnsinnig interessant und surreal. Schließlich versuchte sich Maze an einer Erklärung. „Sein Code ist auf einem meiner Implantate gespeichert, aber ein Teil davon auch in meinem Gehirn. Und diesen Teil kann er nicht mehr in den Cyberspace oder einen anderen Wirt transferieren. Daher teilen wir uns diesen Körper seit zwei Jahren.“
Da kam Red ein seltsamer Gedanke. „Bekommt Phage alles mit?“
Maze grinste. „Alles.“
Das war einfach zu schräg. Eine Künstliche Intelligenz, die in einem Menschen lebt? Wie eine zweite Persönlichkeit? Red konnte sich nicht vorstellen, dass das funktionierte. Er fragte sich, ob Maze ihn verarschte, doch die ganze Geschichte war zu abstrus, um ausgedacht zu sein.
Während er grübelte, spürte er plötzlich, wie Maze‘ Kopf auf seine Schulter sank. Fühlte sich verdammt vertraut an. „Danke.“
Red antwortete nicht. Weitere Worte waren überflüssig und so legte er einfach nur den Arm um den seltsamen jungen Mann. So saßen sie eine ganze Weile schweigend da, jeder in seinen eigenen Gedanken gefangen. Dann bemerkte er, dass der Wirehead eingeschlafen war.
Obwohl Red ziemlich fertig war, war an Schlaf nicht zu denken. Seine Gedanken verbissen sich in der Tatsache, dass Maze nicht allein war. Dass da eine KI in seinem Kopf war. Eine KI, die alles mitbekam und die eine eigene Persönlichkeit hatte. Als Dealer hatte er nicht viel mit Künstlichen Intelligenzen zu schaffen gehabt. Er nutzte das Netz nur, um seine Geschäfte abzuwickeln, für einen echten Hack reichte sein Wissen nicht aus. Vielleicht war Maze auch nur ein Spinner, der glaubte, dass jemand in seinem Kopf war.
Um sich zu beschäftigen, warf Red eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle. Was anderes gab sein Eisfach nicht her und im Kühlschrank fanden sich nur abgelaufene Eier und Fertigsoßen für Nudeln, die er nicht da hatte. Er sah zu, wie der Käse schmolz und die Pizza allmählich Blasen warf, und wurde dabei ruhiger. Seine Intuition sagte ihm, dass Maze die Wahrheit sagte. Dass da wirklich eine KI in ihm war. Phage. Komischer Name.
Red fläzte sich mit seiner Pizza aufs Sofa und betrachtete seinen Besuch. Er hatte Maze ein Kissen unter den Kopf geschoben. Offensichtlich war er total erschöpft. Er schlief so tief, dass man kaum sah, dass er atmete. Wie lange versteckte er diese KI schon seinem Kopf? Und konnte Red ihm zumuten, zum Angriff überzugehen?
Denn es ergab Sinn. Es kam ihm vor, als hätte er eine echte Chance bekommen. Eine Chance, Alterreal für Liz‘ Tod und das, was sie ihr angetan hatten, büßen zu lassen. Maze war ein Insider. Besser hätte er es nicht treffen können. Aber der Wirehead war mehr als eine Informationsquelle. Wie er ihn in seinem Bett liegen sah, wurde es Red bewusst: Er hatte sich verknallt. Und zwar richtig übel. Verdammt, was muss er auch genau dein Typ sein?
Liz hätte sein emotionales Chaos sofort bemerkt. Der Gedanke an seine Schwester drückte ihm die Kehle zu. Dennoch überkam ihm das Bedürfnis, sie zu sehen. Leise stand Red auf und ging in ihr Zimmer. War eigentlich mal sein Schlafzimmer gewesen, doch als sie damals zu ihm gezogen war, hatte er es ihr überlassen. Er war ja sowieso nie zu Hause gewesen, außer, wenn sein Körper schlapp gemacht hatte. Als er die Tür öffnete, zog sich sein Brustkorb schmerzhaft zusammen. Es sah aus, als wäre sie noch da. Bücher stapelten sich neben ihrem ungemachten Bett. Darüber hing ein riesiges Bild von einem Sternennebel, bunt und hoffnungsvoll.
Ihr Handcom lag auf dem Schreibtisch, als hätte sie es gerade noch benutzt. Red griff sich das Tablet und schaltete es ein. Er kannte ihr Passwort. Sie hatten keine Geheimnisse gehabt. Sie hatte ihm gesagt, dass sie zu Alterreal geht. Er hatte nur nicht richtig zugehört. Mit zitternden Händen durchsuchte er ihre Bilddateien. Wollte sie noch einmal so sehen wie damals, als sie zusammen am Meer gewesen waren. Als sie glücklich gewesen war.
Auch wenn sie die ganze Woche damit verbracht hatten, Plastikmüll am Strand einzusammeln, hatte sich alles nach Urlaub angefühlt. Damals war Red clean gewesen. Zumindest für ein paar Monate. Ihr zuliebe. Nun, da er sich und sie gemeinsam in die Kamera lächeln sah, fragte er sich, warum er wieder mit dem Dreck angefangen hatte.
„Deine Freundin?“
Red zuckte zusammen. Er hatte Maze nicht hereinkommen hören.
„Meine Schwester.“
Der Wirehead setzte sich zu ihm aufs Bett. „Ihr seht euch nicht ähnlich.“
„Anderer Vater. Ihrer war besser als meiner.“ Er betrachtete das Funkeln ihrer grünen Augen. „Aber eigentlich hatte sie viel von unserer Mutter. Zumindest das Gute.“
Maze legte den Kopf schief. „Du sprichst in der Vergangenheit.“
Red schluckte. „Sie ist tot. Alterreal.“
„Scheiße.“ Er schaute betreten zur Seite. „Tut mir leid.“
Red spürte sein Herz hart gegen seinen Brustkorb schlagen. Die Erinnerung entzündete den Zorn in ihm, gleichzeitig fühlte er sich plötzlich jeglicher Kraft beraubt. Er überlegte, ob der dem Wirehead die ganze Geschichte erzählen sollte. Aber vermutlich wusste er ziemlich genau, was die Sekte mit Frauen wie Liz anstellte. Dass sie sie entsorgten, sobald sie ungemütlich wurden. Oder abhauten.
Da kam ihm ein hässlicher Gedanke. „Hast du auch eine tickende Zeitbombe in dir?“
„Was meinst du?“
„Giftkapsel.“
„Nein. Sie wollen uns nicht töten.“
Trotzdem war er auf der Flucht. Was würde Alterreal mit ihm anstellen? Red wollte ihm tausend Fragen stellen, aber er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Ob er überhaupt damit anfangen sollte. Nach Liz‘ Tod hatte ihn nur der Gedanke an Rache weitermachen lassen. Nun spielte ihm das Schicksal Maze in die Hände. Eine bessere Chance würde er nicht bekommen. Aber war seine Rache es wert, den Wirehead in Gefahr zu bringen?
„Willst du bei mir bleiben?“, fragte er dennoch. Einen Moment lang glaubte er, dass er ihn schräg anblicken und lachend verneinen würde. Was denkst du dir dabei?
„Wäre gut“, meinte Maze nur. Man merkte ihm nicht an, was er darüber dachte.
„Und was meint Phage?“
„Passt.“
„Okay.“
Red war erleichtert. Zeit, seine Absichten offen zu legen. Auch wenn er Maze lieber wieder ins Bett gezerrt hätte. Scheiße, der Kerl bringt dich total durcheinander. „Hör mal, ich werde zwar nicht gerade morgen zu Alterreal marschieren, aber ich hab ne Rechnung mit denen zu begleichen.“ Sein Gegenüber nickte ernst und bedeutete ihm, weiterzusprechen. „Könnte auch für dich gefährlich werden, weil … naja, ich will nicht nur einen Tempel hochjagen. Ich will die richtig treffen, dort, wo es weh tut. Keine Ahnung, ob ich überhaupt ne Chance hab, aber wenn du mir hilfst ....“
„Wir haben ebenfalls eine Rechnung mit Alterreal offen“, sagte Maze.
„Dann bist du dabei?“
„Ja. Aber zu zweit kommen wir nicht weit. Vor allem müssen wir zurück in den Kern, wenn wir etwas bewegen wollen.“
Zurück in den Kern? Natürlich. Was hast du denn gedacht, Red? Diese perfekte Armprothese, sein spaciges Deck, seine künstlichen Augen. Er hat für Alterreal gearbeitet. Firmennetzwerke gehackt. Maze sah nicht nur so aus, er stammte wirklich aus einer anderen Welt.
„Wenn du eine Kern-ID hast, was machst du dann noch hier draußen?“
Maze verzog das Gesicht. „Im Kern wirst du permanent gescannt, es ist unmöglich, seine Identität zu verbergen. Im Sprawl ist es leichter, sich zu verstecken. Trotzdem haben sie uns mehr als einmal gefunden. Mit einer neuen ID könnte ich mich im Kern verbergen.“
Red schnaufte. „Das ist unbezahlbar.“
„Geld ist kein Problem.“ Maze zuckte die Achseln. „Es gibt nur kaum jemandem, der dir eine neue Identität verschaffen kann. Die meisten, die es können, würden mich an Alterreal ausliefern.“ Er machte eine Pause und sah Red in die Augen. „Vielleicht hab ich einen Weg gefunden. Eine KI, die sich Wave nennt. Angeblich kann sie uns helfen. Unter der Bedingung, dass wir uns mit ihr treffen.“
Noch eine KI? Red wusste nicht, was er davon halten sollte, aber eine neue ID war das Risiko wert. „Worauf warten wir dann noch?“
Sie konnten sowieso nicht hierbleiben. Wenn diese Alterrealfreaks wirklich so gute Hacker am Start hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis hier ein weiterer Killer aufkreuzte. Red packte das Nötigste ein. Viel mehr als das besaß er sowieso nicht.
Er bestand darauf, dass sie Maze eine Waffe besorgten, bevor sie sich mit einer unbekannten und damit potentiell gefährlichen KI trafen. Ming erwartete sie mit seinem dreckigen Grinsen, das einem sagte: Ich hab genau das, was du brauchst. Er winkte Red zu sich und warf seiner Begleitung einen langen, bewundernden Blick zu. „Leica Linsen, ja?“
Maze blinzelte. Ihm hingen die Glasfaserkabel über die Schultern und verloren sich in seiner Jackentasche, wo er mit einer Hand sein Deck streichelte. Er war online und hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass der Chinese ihn ansprach. „Ja“, bestätigte er und Red fragte sich, wie Ming das so schnell erkennen konnte. Aber egal, sie waren nicht hier, um über Maze‘ künstliche Augen zu plaudern.
Er kam sofort zum Geschäft. „Wir brauchen mehr Feuerkraft. Außerdem will ich etwas Synth loswerden. Tauschst du?“ Er konnte sich nicht mehr als Dealer auf der Straße blicken lassen, da könnte er auch gleich zu Alterreal gehen und sagen: Hier bin ich, bitte ballert mir ein Loch in den Schädel. Ein bisschen was würde er behalten, der Stoff war außergewöhnlich gut, aber den Rest wollte er loswerden.
„Wenn die Qualität stimmt“, sagte der Chinese und nahm sie beide mit in den Keller. Dort ließ er sich von Red das Synth zeigen und war offenbar beeindruckt von der Reinheit der rosa Kristalle. Er holte eine Feinwaage und einen Schnelltest und rieb sich ein paar Krümel ins Zahnfleisch. Nachdem er sich von der Qualität des Stoffes überzeugt hatte, zeigte er ihm ein paar handliche SA-Pistolen.
Red zog seine Desert Eagle unter der Jacke hervor und meinte: „Die ist geil, noch so eine für meinen Freund.“
Ming grinste und bat Maze an den Handscanner, um seine biometrischen Daten auf die Waffe zu übertragen. Als der Wirehead ihm nur die Rechte hinhielt, schaute der Chinese erst irritiert, verstand aber sofort, als er die Silikonhaut der linken Hand erkannte. „Unfall?“, fragte er.
„So ähnlich.“
Red schaute sich derweil um. Sein Blick glitt über Schnellfeuer- und Laserwaffen, Maschinenpistolen und Sprengkörper. Ming hatte alles, was man für einen Ein-Mann-Krieg brauchte.
„Hast du was zur Drohnenabwehr?“, fragte Red.
Ming schaute ihn an, als würde die Frage ihn persönlich beleidigen.
„Und, wo genau treffen wir uns?“
Maze blinzelte. „Phage spricht gerade mit ihr.“ Red schmeckte die Sache immer noch nicht, aber es war tatsächlich die beste Möglichkeit, schnell an neue Identitäten und einen Unterschlupf zu kommen. Angeblich hatte diese Wave schon einiges auf den Weg gebracht.
Es war faszinierend, Maze dabei zu beobachten, wie er online war und gleichzeitig die Realität im Blick behielt. Es war zwar möglich, das virtuelle und reale Bild synchron laufen zu lassen, aber die meisten bekamen das nicht auf die Reihe und rannten blindlings auf die Straße oder gegen Gebäude. Deshalb benutzten die Alten – und auch einige junge User – immer noch Smartphones oder VR-Brillen. Dem Wirehead hingegen merkte man kaum an, dass er gerade das Netz durchforstete. Einzig sein starrer Blick wies darauf hin, dass er mehr sah als die Realität.
Red fiel auf, dass er meist nur eine Hand am Deck hatte. Weil Phage die meiste Arbeit machte. Angeblich brachte das Samsung Xtasy mobil die gleiche Leistung wie eine Verbindung über Draht oder Terminal. Was für ein heißer Scheiß. Red kotzte regelmäßig ab, wenn er unterwegs online musste und keinen Anschluss fand. Die niedrige Übertragungsrate im mobilen Netz machte das Navigieren im Cyberspace fast unmöglich. Zumindest wenn man ein so antiquiertes Deck nutzte wie er. Im Kern sah das anders aus. Bessere Netzabdeckung und neue Hardware, die ihren User ganz natürlich ins eisklare Blau der VR gleiten ließ.
„Wir haben einen Treffpunkt“, verkündete Maze und klang dabei alles andere als zufrieden.
„Stimmt was nicht?“
Er zuckte die Achseln. „Weiß nicht. Sie war irgendwie anders.“
Eine Falle? Red tastete nach seiner Knarre. „Vielleicht sollten wir das verschieben.“
Maze schüttelte den Kopf. „Wenn du Alterreal wirklich schmerzhaft treffen willst, brauchen wir ihre Hilfe.“
„Bist du dir sicher, dass man dieser KI trauen kann?“
„Ja.“
„Na schön.“
Wave hatte einen Treffpunkt in der Nähe des Hafens vorgeschlagen. Je weiter sie gingen, desto niedriger und grauer wurden die Gebäude. Und desto weniger Menschen bevölkerten die Straßen, die schließlich in ein Gewirr aus Containern und Kränen mündeten. Der perfekte Ort, um ungestört zusammenzukommen – oder um jemanden loszuwerden. Verdammt. Red aktivierte einen der Drohnenkiller. Ein kleines Gerät, das bewaffnete Flugkörper erkannte und selbstständig eliminierte. Zerstörte sich dabei leider selbst, daher hatte er gleich zehn Stück genommen. Ming, der Hund, hatte ihm dafür ein kleines Vermögen abgeknöpft.
Als sie die Koordinaten erreicht hatten war da einfach nichts. Sie standen vor einer leeren Lagerhalle und scannten angespannt die Umgebung. Um sie herum wurden vollautomatisch Container verladen, die dürren Hälse der Kräne bewegten sich wie von Geistern gelenkt. Der Himmel hatte die Farbe von Blei. Kalter Wind spuckte ihnen einzelne Regentropfen in die Gesichter.
Red umklammerte die Desert Eagle. „Das gefällt mir nicht.“
„Sie ist offline“, meinte Maze. „Vielleicht sollten wir …“
Weiter kam er nicht. Das Stakkato eines Sturmgewehrs ließ sie auseinanderfahren. Diese Wichser hatten sie gefunden. Red riss die Desert Eagle hoch, gab Maze Deckung, während er ihn ins Innere der Lagerhalle schubste. Kugeln fetzten Betonbrocken aus der Wand, hinter der sie Zuflucht fanden. Fuck. Reds Knie zitterten. Sein Arm tat plötzlich wieder weh.
„Die müssen unsere Kommunikation überwacht haben“, keuchte Maze, als das Dauerfeuer kurz verstummte.
„Offensichtlich“, knurrte Red, dessen Blick hektisch durch die Halle zuckte. Komplett leergeräumt, nichts, wohinter man in Deckung gehen konnte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihnen die Typen schon so dicht auf den Fersen waren. Jetzt saßen sie in der Falle. Wer war auch so blöd und schlug einen so einsamen Treffpunkt vor? Und da fiel es ihm auf. Auch wenn es keine Rolle mehr spielte. „Vielleicht gibt es diese Wave gar nicht.“
Der Beschuss blieb weiter aus. Dafür kamen die Typen näher. Red späte um die Ecke und erkannte drei Gestalten, die so durchschnittlich aussahen, dass sich kein Schwein an sie erinnern würde. Diesmal hatten sie Profis geschickt.
Wenn ihm nicht sofort etwas einfiel, waren sie tot. An Flucht war nicht zu denken, zumindest nicht zu zweit. Aber vielleicht könnte er Maze schützen. Dieses Mal versaust du es nicht. Red ging zum Angriff über, riss mit einem Schrei die Desert Eagle hoch und rannte los. Sein plötzlicher Sprint verwirrte die Typen, ihre Waffenläufe folgten ihm und jagten ihm erneut Kugeln entgegen. Red schoss zurück und traf einen in die Brust. Kurz danach explodierte ein heißer Schmerz in seinem Oberschenkel und er stürzte. Blut pulste aus der Wunde. Viel zu viel Blut. Das wars also. Scheiße.
Die verbliebenen zwei Angreifer stellten das Feuer ein. Sie waren sich ihrer Beute nun sicher und kamen langsam auf ihn zu. Wo war Maze? Hoffentlich war er klug und verpisste sich, während die Typen ihm ihre ganze Aufmerksamkeit schenkten.
Der Wirehead war nicht klug. Mit gezogener Waffe stürmte er aus der Halle. Wie in Zeitlupe sah Red, wie die zwei Gestalten sich zu Maze umdrehten und ihre Gewehre hochrissen. „Nein!“
Nicht schon wieder. Sie durften nicht schon wieder gewinnen.
Red schrie seine Hilflosigkeit und Wut hinaus, als beide Angreifer plötzlich in sich zusammensackten. Als hätte ihnen jemand das Licht ausgeknipst. Maze hielt schwer atmend inne und auch Red konnte nicht glauben, was er sah. Die beiden waren hinüber. Kopfschuss.
„Sorry.“ Eine verzerrte Frauenstimme. „Hab’s nicht früher geschafft.“ Sie kam näher. Ein schmales Mädchen mit blauen Haaren. Nein. Kein Mädchen. Ein Android. Ein Sexspielzeug. In einem schwarzen Overall und mit einer fetten Knarre in der kleinen Hand.
Sie hockte sich vor Red und lächelte. „Das kriegen wir wieder hin.“
Maze kam währenddessen angestolpert, half ihm, sich aufzusetzen, damit er ihrer Retterin in die künstlichen Augen schauen konnte. Pinke Augen. Sie waren anders als die normaler Androiden. Offensichtlich künstlich, aber nicht so leer.
„Du bist Wave?“, fragte Maze. Er klang erstaunt.
Das Mädchen grinste. „Ich bin Wave.“
„Die echte?“
Sie nickte. „Ein Hacker von Alterreal hat meine Identität gestohlen, um meine Verbündeten zu vernichten. Als ich Phage orten konnte, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht. Ist ja gerade nochmal gut gegangen.“
Maze war offensichtlich irritiert. „Dann wurden wir verarscht?“
Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Wirehead sich wie ursprünglich geplant allein mit Wave hätte treffen wollen. Red tastete nach seiner Hand und drückte das kühle Silikon.
„Leider ja“, erwiderte Wave. „Ein Grund mehr, in den Krieg gegen Alterreal zu ziehen.“
„Darauf kannst du wetten“, knurrte Red. Er versuchte aufzustehen und schaffte es nur mit Maze‘ Hilfe. Der Wolkenbrei lockerte sich und orangerote Lichtfetzen kündigten die Nacht an. Fast wäre alles schief gegangen. Aber nur fast.
Die meisten Typen vergaß er schon am nächsten Tag. Das Gefühl von Maze‘ kühlem Körper hatte sich dagegen in seine Fingerspitzen eingebrannt. Einen unwirklichen Moment lang hatte er geglaubt, Maze sei kein Mensch, was ihn umso mehr erregt hatte. Vielleicht hatte er sich das Metall unter seinen Händen auch nur eingebildet. Egal, wer oder was der Wirehead war, er wollte ihn wiedersehen.
Doch Maze ließ sich nicht mehr blicken. Nach zwei Wochen zweifelte Red an seinem Verstand. Auch wenn er inzwischen sicher war, dass der Wirehead echt war, er war noch nie einem Kerl hinterhergelaufen. Auf Maze zu warten, fühlte sich trotzdem richtig an. Denn so hatte er ein Ziel. Etwas, das ihn von Liz und ihrem geschundenen, toten Körper ablenkte. Und darüber hinwegtäuschte, dass er immer noch keine Idee hatte, wie er effektiv gegen Alterreal vorgehen sollte. Was kann ein Niemand wie du schon ausrichten?
Beinahe drei Wochen vergingen, bis er Maze entdeckte. Allein an seinem Tisch, das fast volle Glas vor sich. Die Hände tanzten über das Deck, genau wie damals. Seine seltsam blauen Augen überblickten die brechend volle Bar, sahen durch Tänzer und Trinker hindurch. Red glitt von seinem Hocker, ging langsam zu ihm rüber. Ließ sich bewusst Zeit, um den Wirehead in Ruhe zu betrachten. Er trug wieder die lange, schwarze Stoffjacke, die seinen schmalen Körper betonte. In seinem linken Ohr steckte ein Cone aus dunkelblauem Stahl. Red überlegte, ob er den kegelförmigen Ohrring mit seiner Zunge herausziehen könnte.
Maze bemerkte ihn nicht. Auch nicht, als er direkt vor ihm stand. Oder er ignorierte ihn, so wie damals. Red grinste und beugte sich über den Tisch. „Hi.“
Der Wirehead blinzelte. Starrte ihn an – nein, durch ihn hindurch. Und sagte etwas, womit er nicht gerechnet hatte. „Oh shit!“
„Was zum ..?“
Maze riss den Kopf nach unten. Eine Kugel fetzte in die Wandverkleidung hinter ihm. Kunststoffsplitter spritzten Red entgegen. Chaos brach aus. Leute kreischten. Waffen wurden gezogen. Verfluchte Scheiße. Er reagierte instinktiv, zückte die Desert Eagle und packte den Wirehead am Arm. Riss ihn auf die Beine und zerrte ihn Richtung Ausgang. Panische Menschen gaben ihnen Deckung. Der Türsteher kam ihnen entgegen. Wohl um nachzuschauen, wer da drin rumballerte.
Als sie hinaus ins Zwielicht der Nacht stolperten, schnappte Red nach Luft. „Fuck! Was war das?“
Maze hatte inzwischen ausgesteckt und verstaute sein Deck im Innern seiner langen Jacke. „Alterreal.“ Er war so leise, Red hätte ihn fast nicht verstanden. Doch dieses eine Wort ließ alle Alarmglocken in ihm schrillen.
„Warum …“ Weiter kam er nicht. Im Augenwinkel sah er den heruntergekommen Kerl mit der Kanone und riss Maze zur Seite. Ein heißer Schmerz fetzte in seinen Arm. Die Lederjacke war hinüber. Na toll. Red biss die Zähne zusammen und rannte los. Zerrte den Wirehead hinter sich her, der scheinbar unbewaffnet war. Verdammt. Warum hatte er keine Knarre bei sich, wenn diese Sekte hinter ihm her war? Und warum hatte Alterreal es auf Maze abgesehen?
Er musste ihn hier wegbringen. Alles andere konnte warten. Red überlegte fieberhaft, wie er zu seiner Bude kommen konnte. Ohne Verfolger am Arsch. Sein Blick irrte umher. Sie mussten runter von der Straße. Eintauchen in die Schatten. Maze fügte sich schweigend seinem Kommando. Sie bogen mehrmals ab, um ihrem Verfolger keine Orientierung zu geben. Erst nach zehn Minuten fiel ihm auf, dass der Typ nicht mehr hinter ihnen war. Gar nicht gut. Da stimmt was nicht.
Maze atmete schwer. War einen solchen Sprint wohl nicht gewohnt.
„Geht’s?“, fragte Red.
Der Wirehead nickte. „Ich …“ Er riss die Augen auf. „Drohne!“
Sie ließen sich fallen. Entgingen knapp einer Schusssalve. Fuck, die fahren aber große Geschütze auf. Red rollte sich auf den Rücken und zielte auf den fliegenden Todbringer. Jetzt würde sich zeigen, ob der Chinese ihn verarscht hatte. Damit kannst du Drohnen vom Himmel ballern, hatte er gesagt. Ganz easy. Red zielte. Atmete tief ein. Aus. Drückte ab. Die Drohne zerbarst zu einem rauchenden Feuerball, der Metall und Plastik spuckte.
„Wow“, meinte Maze.
Red hatte das Gefühl, zu ersticken. „Wir müssen hier weg!“
Damit hatten die Wichser nicht gerechnet. Bis sie eine weitere Drohne am Start hatten, würden sie weg sein. Abgetaucht in der ewigen Finsternis des Sprawl. Red nahm trotzdem einen Umweg. Sicher war sicher.
Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, konnte er wieder durchatmen. Keiner hatte sie verfolgt. Hatten wohl daran zu knabbern, dass ein Punk ihre Drohne gekillt hatte. Red ging davon aus, dass sie bei ihm vorerst sicher waren. Der hohe Adrenalinspiegel veranlasste ihn dazu, dämlich zu grinsen. Fuck. Sie waren beide am Leben. Oh man …
Während Red noch atemlos an der Tür lehnte, schaute sich Maze in seiner Bude um. Ließ den Blick über die spärliche Einrichtung und die leeren Nudelpackungen am Boden gleiten. Kramte sein Deck aus seiner zerschlissenen Jacke und bettete es mitsamt den Glasfasern auf den Wohnzimmertisch. Schloss das schicke Teil an die Steckdose an. Ein Samsung Xtasy, soweit Red das erkennen konnte. Kein Modell, dass er aus der Werbung kannte.
Der Wirehead zog die Jacke aus und warf sie aufs Sofa.
„Darf ich?“ Er zeigte auf den schwarzen Futon.
„Klar.“
Erschöpft sank er auf die Matratze. Legte sich auf den Rücken und streckte die Arme aus. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Sein linker Arm sah anders aus als der rechte. Perfekter. Red setzte sich zu ihm, sah zu, wie sich sein Brustkorb noch immer viel zu schnell hob und senkte. Tastete nach seiner linken Hand, strich vorsichtig mit den Fingerkuppen über seinen Handrücken. Spürte eine Weichheit, die zu kalt für menschliche Haut war.
„Silikon?“, fragte Red.
Maze rollte sich auf die Seite. Sah ihm ins Gesicht. „Ja.“
„Unfall?“
„So ähnlich.“
Red glitt neben ihn, ertränkte sich in den unnatürlich blauen Augen. Streckte die Finger aus und berührte sachte die blassen Lippen. Fühlte sich warm an. Menschlich. Seine Hand wanderte tiefer, spürte kaltes Metall unter dem dünnen Stoff des schwarzen Shirts. Maze verstand, setzte sich auf und zog es sich über den Kopf. Red schluckte. Sein Oberkörper war ein Mosaik aus organischem und künstlichem Gewebe. Haut, Silikon und silbern glänzendes Metall, da, wo der Kunststoff abgeblättert war.
Er spürte seinen Herzschlag im Hals. „Bist du ein Mensch?“
Maze grinste. „So ähnlich.“
Ihre Lippen fanden sich von allein. Es durchpulste Red wie ein Stromschlag. Ihre Flucht verblasste zu einem trüben Schatten, während er sich und dem Wirehead die Klamotten vom Leib schälte.
„Dein Arm blutet“, stellte Maze fest.
„Macht nichts.“ Red rollte sich auf ihn. Küsste sanft seinen Hals und spürte, wie warme und kalte Finger über seine Rücken kratzten. Seine Nerven flirrten, als er sich in ihm versenkte und fortgerissen wurde. Wie damals. Die Anspannung zerbarst und für wenige, fragile Augenblicke gab es nichts als das pure Verlangen nach Nähe.
Danach lehnten sie beide atemlos an der Wand. Maze hatte seine Wunde versorgt und ihm dem Arm verbunden. Nun beobachtete Red die Neonschlieren, die durch die Jalousie drangen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ob er etwas sagen sollte. Es irritierte ihn, dass Maze so gelangweilt aussah, obwohl er vor wenigen Momenten noch unter ihm gestöhnt hatte.
„Alles okay?“, fragte Red.
„Ja.“
Verdammt, er schaute ihn nicht einmal an. Red beugte sich vor, versuchte in seiner ausdruckslosen Miene zu lesen. Keine Chance. Gerade noch waren sie eins gewesen und jetzt schien ihm Maze so weit entfernt, dass er erneut an seiner Menschlichkeit zweifelte.
Red sah ihn lange an und fragte schließlich: „Was bist du, Maze?“
„Ist schwer zu erklären.“
„Versuch’s.“
Der Wirehead sah ihn endlich an. Scannte sein Gesicht. Und lächelte. Nur kurz. „Mein Vater war Priester bei Alterreal, also war ich auch dabei. Hab Firmennetzwerke gehackt, war aber kein Gläubiger. Ist alles nur ne miese Show.“ Er seufzte. „Ich war gut, hab keine Fragen gestellt. Und als ich sie gestellt hab, wars zu spät.“ Er fuhr sich durchs Haar und sah schrecklich hilflos dabei aus. „Hab versucht, was aus dem System zu stehlen und hatte Stress mit einer KI. Ungewöhnlich aggressiv. War ganz schön erstaunt, als ich gemerkt hab, dass wir das gleiche Ziel hatten.“
„Was für ne KI?“
„Phage. Er hat sich die gleichen Fragen gestellt. Ich konnts selbst kaum glauben. Wir wollten zusammenarbeiten, aber die haben uns entdeckt. Phage musste fliehen – und steckt nun hier drin.“ Maze tippte sich an die Schläfe.
„In deinem Kopf?“
„Hab viel Technik im Hirn. Alterreal brauchte jemanden, der weiter ging als andere. Hatte viele Operationen, viele Verbesserungen. So konnte ich Phage in mir verstecken, aber irgendwas ging schief. Unsere Persönlichkeiten überlagern sich.“
„Krass.“ Wirkte Maze deswegen so seltsam distanziert, obwohl er ihn ganz nah ranließ? Red schaute ihm in die Augen, versuchte irgendein Zeichen der Künstlichen Intelligenz hinter dem unnatürlichen Blau zu erkennen. „Du glaubst also, diese KI …“ er suchte nach den richtigen Worten „… hat so etwas wie ein Bewusstsein?“
„Ich weiß es.“
Wow, das war echt schräg. „Und Phage und du seid … verschmolzen?“
„So ähnlich.“ Der Wirehead schien zu überlegen, wie er seinen Geisteszustand in Worte fassen sollte. Er schien einen stummen Monolog zu führen – oder einen Dialog mit Phage. Red wartete geduldig. Das war zu abgefahren. Wahnsinnig interessant und surreal. Schließlich versuchte sich Maze an einer Erklärung. „Sein Code ist auf einem meiner Implantate gespeichert, aber ein Teil davon auch in meinem Gehirn. Und diesen Teil kann er nicht mehr in den Cyberspace oder einen anderen Wirt transferieren. Daher teilen wir uns diesen Körper seit zwei Jahren.“
Da kam Red ein seltsamer Gedanke. „Bekommt Phage alles mit?“
Maze grinste. „Alles.“
Das war einfach zu schräg. Eine Künstliche Intelligenz, die in einem Menschen lebt? Wie eine zweite Persönlichkeit? Red konnte sich nicht vorstellen, dass das funktionierte. Er fragte sich, ob Maze ihn verarschte, doch die ganze Geschichte war zu abstrus, um ausgedacht zu sein.
Während er grübelte, spürte er plötzlich, wie Maze‘ Kopf auf seine Schulter sank. Fühlte sich verdammt vertraut an. „Danke.“
Red antwortete nicht. Weitere Worte waren überflüssig und so legte er einfach nur den Arm um den seltsamen jungen Mann. So saßen sie eine ganze Weile schweigend da, jeder in seinen eigenen Gedanken gefangen. Dann bemerkte er, dass der Wirehead eingeschlafen war.
Obwohl Red ziemlich fertig war, war an Schlaf nicht zu denken. Seine Gedanken verbissen sich in der Tatsache, dass Maze nicht allein war. Dass da eine KI in seinem Kopf war. Eine KI, die alles mitbekam und die eine eigene Persönlichkeit hatte. Als Dealer hatte er nicht viel mit Künstlichen Intelligenzen zu schaffen gehabt. Er nutzte das Netz nur, um seine Geschäfte abzuwickeln, für einen echten Hack reichte sein Wissen nicht aus. Vielleicht war Maze auch nur ein Spinner, der glaubte, dass jemand in seinem Kopf war.
Um sich zu beschäftigen, warf Red eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle. Was anderes gab sein Eisfach nicht her und im Kühlschrank fanden sich nur abgelaufene Eier und Fertigsoßen für Nudeln, die er nicht da hatte. Er sah zu, wie der Käse schmolz und die Pizza allmählich Blasen warf, und wurde dabei ruhiger. Seine Intuition sagte ihm, dass Maze die Wahrheit sagte. Dass da wirklich eine KI in ihm war. Phage. Komischer Name.
Red fläzte sich mit seiner Pizza aufs Sofa und betrachtete seinen Besuch. Er hatte Maze ein Kissen unter den Kopf geschoben. Offensichtlich war er total erschöpft. Er schlief so tief, dass man kaum sah, dass er atmete. Wie lange versteckte er diese KI schon seinem Kopf? Und konnte Red ihm zumuten, zum Angriff überzugehen?
Denn es ergab Sinn. Es kam ihm vor, als hätte er eine echte Chance bekommen. Eine Chance, Alterreal für Liz‘ Tod und das, was sie ihr angetan hatten, büßen zu lassen. Maze war ein Insider. Besser hätte er es nicht treffen können. Aber der Wirehead war mehr als eine Informationsquelle. Wie er ihn in seinem Bett liegen sah, wurde es Red bewusst: Er hatte sich verknallt. Und zwar richtig übel. Verdammt, was muss er auch genau dein Typ sein?
Liz hätte sein emotionales Chaos sofort bemerkt. Der Gedanke an seine Schwester drückte ihm die Kehle zu. Dennoch überkam ihm das Bedürfnis, sie zu sehen. Leise stand Red auf und ging in ihr Zimmer. War eigentlich mal sein Schlafzimmer gewesen, doch als sie damals zu ihm gezogen war, hatte er es ihr überlassen. Er war ja sowieso nie zu Hause gewesen, außer, wenn sein Körper schlapp gemacht hatte. Als er die Tür öffnete, zog sich sein Brustkorb schmerzhaft zusammen. Es sah aus, als wäre sie noch da. Bücher stapelten sich neben ihrem ungemachten Bett. Darüber hing ein riesiges Bild von einem Sternennebel, bunt und hoffnungsvoll.
Ihr Handcom lag auf dem Schreibtisch, als hätte sie es gerade noch benutzt. Red griff sich das Tablet und schaltete es ein. Er kannte ihr Passwort. Sie hatten keine Geheimnisse gehabt. Sie hatte ihm gesagt, dass sie zu Alterreal geht. Er hatte nur nicht richtig zugehört. Mit zitternden Händen durchsuchte er ihre Bilddateien. Wollte sie noch einmal so sehen wie damals, als sie zusammen am Meer gewesen waren. Als sie glücklich gewesen war.
Auch wenn sie die ganze Woche damit verbracht hatten, Plastikmüll am Strand einzusammeln, hatte sich alles nach Urlaub angefühlt. Damals war Red clean gewesen. Zumindest für ein paar Monate. Ihr zuliebe. Nun, da er sich und sie gemeinsam in die Kamera lächeln sah, fragte er sich, warum er wieder mit dem Dreck angefangen hatte.
„Deine Freundin?“
Red zuckte zusammen. Er hatte Maze nicht hereinkommen hören.
„Meine Schwester.“
Der Wirehead setzte sich zu ihm aufs Bett. „Ihr seht euch nicht ähnlich.“
„Anderer Vater. Ihrer war besser als meiner.“ Er betrachtete das Funkeln ihrer grünen Augen. „Aber eigentlich hatte sie viel von unserer Mutter. Zumindest das Gute.“
Maze legte den Kopf schief. „Du sprichst in der Vergangenheit.“
Red schluckte. „Sie ist tot. Alterreal.“
„Scheiße.“ Er schaute betreten zur Seite. „Tut mir leid.“
Red spürte sein Herz hart gegen seinen Brustkorb schlagen. Die Erinnerung entzündete den Zorn in ihm, gleichzeitig fühlte er sich plötzlich jeglicher Kraft beraubt. Er überlegte, ob der dem Wirehead die ganze Geschichte erzählen sollte. Aber vermutlich wusste er ziemlich genau, was die Sekte mit Frauen wie Liz anstellte. Dass sie sie entsorgten, sobald sie ungemütlich wurden. Oder abhauten.
Da kam ihm ein hässlicher Gedanke. „Hast du auch eine tickende Zeitbombe in dir?“
„Was meinst du?“
„Giftkapsel.“
„Nein. Sie wollen uns nicht töten.“
Trotzdem war er auf der Flucht. Was würde Alterreal mit ihm anstellen? Red wollte ihm tausend Fragen stellen, aber er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Ob er überhaupt damit anfangen sollte. Nach Liz‘ Tod hatte ihn nur der Gedanke an Rache weitermachen lassen. Nun spielte ihm das Schicksal Maze in die Hände. Eine bessere Chance würde er nicht bekommen. Aber war seine Rache es wert, den Wirehead in Gefahr zu bringen?
„Willst du bei mir bleiben?“, fragte er dennoch. Einen Moment lang glaubte er, dass er ihn schräg anblicken und lachend verneinen würde. Was denkst du dir dabei?
„Wäre gut“, meinte Maze nur. Man merkte ihm nicht an, was er darüber dachte.
„Und was meint Phage?“
„Passt.“
„Okay.“
Red war erleichtert. Zeit, seine Absichten offen zu legen. Auch wenn er Maze lieber wieder ins Bett gezerrt hätte. Scheiße, der Kerl bringt dich total durcheinander. „Hör mal, ich werde zwar nicht gerade morgen zu Alterreal marschieren, aber ich hab ne Rechnung mit denen zu begleichen.“ Sein Gegenüber nickte ernst und bedeutete ihm, weiterzusprechen. „Könnte auch für dich gefährlich werden, weil … naja, ich will nicht nur einen Tempel hochjagen. Ich will die richtig treffen, dort, wo es weh tut. Keine Ahnung, ob ich überhaupt ne Chance hab, aber wenn du mir hilfst ....“
„Wir haben ebenfalls eine Rechnung mit Alterreal offen“, sagte Maze.
„Dann bist du dabei?“
„Ja. Aber zu zweit kommen wir nicht weit. Vor allem müssen wir zurück in den Kern, wenn wir etwas bewegen wollen.“
Zurück in den Kern? Natürlich. Was hast du denn gedacht, Red? Diese perfekte Armprothese, sein spaciges Deck, seine künstlichen Augen. Er hat für Alterreal gearbeitet. Firmennetzwerke gehackt. Maze sah nicht nur so aus, er stammte wirklich aus einer anderen Welt.
„Wenn du eine Kern-ID hast, was machst du dann noch hier draußen?“
Maze verzog das Gesicht. „Im Kern wirst du permanent gescannt, es ist unmöglich, seine Identität zu verbergen. Im Sprawl ist es leichter, sich zu verstecken. Trotzdem haben sie uns mehr als einmal gefunden. Mit einer neuen ID könnte ich mich im Kern verbergen.“
Red schnaufte. „Das ist unbezahlbar.“
„Geld ist kein Problem.“ Maze zuckte die Achseln. „Es gibt nur kaum jemandem, der dir eine neue Identität verschaffen kann. Die meisten, die es können, würden mich an Alterreal ausliefern.“ Er machte eine Pause und sah Red in die Augen. „Vielleicht hab ich einen Weg gefunden. Eine KI, die sich Wave nennt. Angeblich kann sie uns helfen. Unter der Bedingung, dass wir uns mit ihr treffen.“
Noch eine KI? Red wusste nicht, was er davon halten sollte, aber eine neue ID war das Risiko wert. „Worauf warten wir dann noch?“
Sie konnten sowieso nicht hierbleiben. Wenn diese Alterrealfreaks wirklich so gute Hacker am Start hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis hier ein weiterer Killer aufkreuzte. Red packte das Nötigste ein. Viel mehr als das besaß er sowieso nicht.
Er bestand darauf, dass sie Maze eine Waffe besorgten, bevor sie sich mit einer unbekannten und damit potentiell gefährlichen KI trafen. Ming erwartete sie mit seinem dreckigen Grinsen, das einem sagte: Ich hab genau das, was du brauchst. Er winkte Red zu sich und warf seiner Begleitung einen langen, bewundernden Blick zu. „Leica Linsen, ja?“
Maze blinzelte. Ihm hingen die Glasfaserkabel über die Schultern und verloren sich in seiner Jackentasche, wo er mit einer Hand sein Deck streichelte. Er war online und hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass der Chinese ihn ansprach. „Ja“, bestätigte er und Red fragte sich, wie Ming das so schnell erkennen konnte. Aber egal, sie waren nicht hier, um über Maze‘ künstliche Augen zu plaudern.
Er kam sofort zum Geschäft. „Wir brauchen mehr Feuerkraft. Außerdem will ich etwas Synth loswerden. Tauschst du?“ Er konnte sich nicht mehr als Dealer auf der Straße blicken lassen, da könnte er auch gleich zu Alterreal gehen und sagen: Hier bin ich, bitte ballert mir ein Loch in den Schädel. Ein bisschen was würde er behalten, der Stoff war außergewöhnlich gut, aber den Rest wollte er loswerden.
„Wenn die Qualität stimmt“, sagte der Chinese und nahm sie beide mit in den Keller. Dort ließ er sich von Red das Synth zeigen und war offenbar beeindruckt von der Reinheit der rosa Kristalle. Er holte eine Feinwaage und einen Schnelltest und rieb sich ein paar Krümel ins Zahnfleisch. Nachdem er sich von der Qualität des Stoffes überzeugt hatte, zeigte er ihm ein paar handliche SA-Pistolen.
Red zog seine Desert Eagle unter der Jacke hervor und meinte: „Die ist geil, noch so eine für meinen Freund.“
Ming grinste und bat Maze an den Handscanner, um seine biometrischen Daten auf die Waffe zu übertragen. Als der Wirehead ihm nur die Rechte hinhielt, schaute der Chinese erst irritiert, verstand aber sofort, als er die Silikonhaut der linken Hand erkannte. „Unfall?“, fragte er.
„So ähnlich.“
Red schaute sich derweil um. Sein Blick glitt über Schnellfeuer- und Laserwaffen, Maschinenpistolen und Sprengkörper. Ming hatte alles, was man für einen Ein-Mann-Krieg brauchte.
„Hast du was zur Drohnenabwehr?“, fragte Red.
Ming schaute ihn an, als würde die Frage ihn persönlich beleidigen.
„Und, wo genau treffen wir uns?“
Maze blinzelte. „Phage spricht gerade mit ihr.“ Red schmeckte die Sache immer noch nicht, aber es war tatsächlich die beste Möglichkeit, schnell an neue Identitäten und einen Unterschlupf zu kommen. Angeblich hatte diese Wave schon einiges auf den Weg gebracht.
Es war faszinierend, Maze dabei zu beobachten, wie er online war und gleichzeitig die Realität im Blick behielt. Es war zwar möglich, das virtuelle und reale Bild synchron laufen zu lassen, aber die meisten bekamen das nicht auf die Reihe und rannten blindlings auf die Straße oder gegen Gebäude. Deshalb benutzten die Alten – und auch einige junge User – immer noch Smartphones oder VR-Brillen. Dem Wirehead hingegen merkte man kaum an, dass er gerade das Netz durchforstete. Einzig sein starrer Blick wies darauf hin, dass er mehr sah als die Realität.
Red fiel auf, dass er meist nur eine Hand am Deck hatte. Weil Phage die meiste Arbeit machte. Angeblich brachte das Samsung Xtasy mobil die gleiche Leistung wie eine Verbindung über Draht oder Terminal. Was für ein heißer Scheiß. Red kotzte regelmäßig ab, wenn er unterwegs online musste und keinen Anschluss fand. Die niedrige Übertragungsrate im mobilen Netz machte das Navigieren im Cyberspace fast unmöglich. Zumindest wenn man ein so antiquiertes Deck nutzte wie er. Im Kern sah das anders aus. Bessere Netzabdeckung und neue Hardware, die ihren User ganz natürlich ins eisklare Blau der VR gleiten ließ.
„Wir haben einen Treffpunkt“, verkündete Maze und klang dabei alles andere als zufrieden.
„Stimmt was nicht?“
Er zuckte die Achseln. „Weiß nicht. Sie war irgendwie anders.“
Eine Falle? Red tastete nach seiner Knarre. „Vielleicht sollten wir das verschieben.“
Maze schüttelte den Kopf. „Wenn du Alterreal wirklich schmerzhaft treffen willst, brauchen wir ihre Hilfe.“
„Bist du dir sicher, dass man dieser KI trauen kann?“
„Ja.“
„Na schön.“
Wave hatte einen Treffpunkt in der Nähe des Hafens vorgeschlagen. Je weiter sie gingen, desto niedriger und grauer wurden die Gebäude. Und desto weniger Menschen bevölkerten die Straßen, die schließlich in ein Gewirr aus Containern und Kränen mündeten. Der perfekte Ort, um ungestört zusammenzukommen – oder um jemanden loszuwerden. Verdammt. Red aktivierte einen der Drohnenkiller. Ein kleines Gerät, das bewaffnete Flugkörper erkannte und selbstständig eliminierte. Zerstörte sich dabei leider selbst, daher hatte er gleich zehn Stück genommen. Ming, der Hund, hatte ihm dafür ein kleines Vermögen abgeknöpft.
Als sie die Koordinaten erreicht hatten war da einfach nichts. Sie standen vor einer leeren Lagerhalle und scannten angespannt die Umgebung. Um sie herum wurden vollautomatisch Container verladen, die dürren Hälse der Kräne bewegten sich wie von Geistern gelenkt. Der Himmel hatte die Farbe von Blei. Kalter Wind spuckte ihnen einzelne Regentropfen in die Gesichter.
Red umklammerte die Desert Eagle. „Das gefällt mir nicht.“
„Sie ist offline“, meinte Maze. „Vielleicht sollten wir …“
Weiter kam er nicht. Das Stakkato eines Sturmgewehrs ließ sie auseinanderfahren. Diese Wichser hatten sie gefunden. Red riss die Desert Eagle hoch, gab Maze Deckung, während er ihn ins Innere der Lagerhalle schubste. Kugeln fetzten Betonbrocken aus der Wand, hinter der sie Zuflucht fanden. Fuck. Reds Knie zitterten. Sein Arm tat plötzlich wieder weh.
„Die müssen unsere Kommunikation überwacht haben“, keuchte Maze, als das Dauerfeuer kurz verstummte.
„Offensichtlich“, knurrte Red, dessen Blick hektisch durch die Halle zuckte. Komplett leergeräumt, nichts, wohinter man in Deckung gehen konnte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihnen die Typen schon so dicht auf den Fersen waren. Jetzt saßen sie in der Falle. Wer war auch so blöd und schlug einen so einsamen Treffpunkt vor? Und da fiel es ihm auf. Auch wenn es keine Rolle mehr spielte. „Vielleicht gibt es diese Wave gar nicht.“
Der Beschuss blieb weiter aus. Dafür kamen die Typen näher. Red späte um die Ecke und erkannte drei Gestalten, die so durchschnittlich aussahen, dass sich kein Schwein an sie erinnern würde. Diesmal hatten sie Profis geschickt.
Wenn ihm nicht sofort etwas einfiel, waren sie tot. An Flucht war nicht zu denken, zumindest nicht zu zweit. Aber vielleicht könnte er Maze schützen. Dieses Mal versaust du es nicht. Red ging zum Angriff über, riss mit einem Schrei die Desert Eagle hoch und rannte los. Sein plötzlicher Sprint verwirrte die Typen, ihre Waffenläufe folgten ihm und jagten ihm erneut Kugeln entgegen. Red schoss zurück und traf einen in die Brust. Kurz danach explodierte ein heißer Schmerz in seinem Oberschenkel und er stürzte. Blut pulste aus der Wunde. Viel zu viel Blut. Das wars also. Scheiße.
Die verbliebenen zwei Angreifer stellten das Feuer ein. Sie waren sich ihrer Beute nun sicher und kamen langsam auf ihn zu. Wo war Maze? Hoffentlich war er klug und verpisste sich, während die Typen ihm ihre ganze Aufmerksamkeit schenkten.
Der Wirehead war nicht klug. Mit gezogener Waffe stürmte er aus der Halle. Wie in Zeitlupe sah Red, wie die zwei Gestalten sich zu Maze umdrehten und ihre Gewehre hochrissen. „Nein!“
Nicht schon wieder. Sie durften nicht schon wieder gewinnen.
Red schrie seine Hilflosigkeit und Wut hinaus, als beide Angreifer plötzlich in sich zusammensackten. Als hätte ihnen jemand das Licht ausgeknipst. Maze hielt schwer atmend inne und auch Red konnte nicht glauben, was er sah. Die beiden waren hinüber. Kopfschuss.
„Sorry.“ Eine verzerrte Frauenstimme. „Hab’s nicht früher geschafft.“ Sie kam näher. Ein schmales Mädchen mit blauen Haaren. Nein. Kein Mädchen. Ein Android. Ein Sexspielzeug. In einem schwarzen Overall und mit einer fetten Knarre in der kleinen Hand.
Sie hockte sich vor Red und lächelte. „Das kriegen wir wieder hin.“
Maze kam währenddessen angestolpert, half ihm, sich aufzusetzen, damit er ihrer Retterin in die künstlichen Augen schauen konnte. Pinke Augen. Sie waren anders als die normaler Androiden. Offensichtlich künstlich, aber nicht so leer.
„Du bist Wave?“, fragte Maze. Er klang erstaunt.
Das Mädchen grinste. „Ich bin Wave.“
„Die echte?“
Sie nickte. „Ein Hacker von Alterreal hat meine Identität gestohlen, um meine Verbündeten zu vernichten. Als ich Phage orten konnte, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht. Ist ja gerade nochmal gut gegangen.“
Maze war offensichtlich irritiert. „Dann wurden wir verarscht?“
Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Wirehead sich wie ursprünglich geplant allein mit Wave hätte treffen wollen. Red tastete nach seiner Hand und drückte das kühle Silikon.
„Leider ja“, erwiderte Wave. „Ein Grund mehr, in den Krieg gegen Alterreal zu ziehen.“
„Darauf kannst du wetten“, knurrte Red. Er versuchte aufzustehen und schaffte es nur mit Maze‘ Hilfe. Der Wolkenbrei lockerte sich und orangerote Lichtfetzen kündigten die Nacht an. Fast wäre alles schief gegangen. Aber nur fast.
“Die Farben sind der Ort, wo unser Gehirn und das Universum sich begegnen.” (Paul Cézanne)