Es ist: 15-12-2020, 17:54
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Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
Beitrag #31 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
20:10 Uhr

Berlin (Reichstag)

Draußen vor dem Reichstag demonstrieren die Menschen weiter und ziehen unermüdlich durch die Straßen. Eine Armee aus zivilen Gestalten, mit Schildern und umgehängten Plakaten. An jeder Ecke steht immer irgendein Redner, meistens von der USPD, und zunehmend auch vom Spartakus, seit dem Karl Liebknecht nachmittags im Tiergarten die 'Sozialistische Republik Deutschland' ausgerufen hatte.
Im Reichstag hatten sich seit den Mittagsstunden SPD und USPD mit dem liberalen bürgerlichen Lager eingefunden und debattieren immer noch. Die SPD in ihren Fraktionsräumen, beinahe gesittet, aber immer wieder unterbrochen von ausufernden Zwischenrufen, die die Bildung eines Programms, eines Plans mehr behindern als fördern. Die USPD hat es sich dagegen im Plenarsaal bequem gemacht, wortwörtlich: Keine Ordnung mehr erkennbar, die Jacketts und Mäntel liegen mit den Hüten auf der einen Seite der Abgeordnetenplätze, die Abgeordneten selbst saßen sogar teilweise auf den Tisch, oder stritten auf dem Platz des Reichstagspräsidenten. Ein Tumult, laut und verstörend, den es so noch nie gegeben hat.
Da der Kartenverkauf ausgesetzt ist, strömen jetzt gegen Abend immer mehr Menschen von draußen herein, schwenken Fahnen, setzen sich probehalber einmal selbst in einen der Sitze und führen gestikulierende Reden auf, die keiner hören will. Immer wieder Rufe nach Gleichberechtigung, dann auch alkoholisierte Menschen, die ihre Freunde über den Tag mit Rausch begehen, ab und zu unterbrochen vom notwendigen Gang zur Toilette, von dem einige gar nicht wiederkommen.
Ein Tollhaus, aus dem sich einige Stunden später sogar die USPD entfernt, weil es ihr zu ungemütlich ist. Sie überlassen die Theaterbühne dem herankommenden Liebknecht, der die Masse immer wieder mit feurigen Reden anstachelt. Und der Saal tobt, brennt wie ein Silvesterfeuerwerk, das noch weit in der Zukunft liegt.
Die USPD, die Unabhängigen, die Sozialisten aller Sozialisten, beinahe schon Freunde von Lenin, wenn da der Spartakus nicht wäre, reden, erhitzen sich so oft, verbrennen sich an ihren Wunschvorstellungen. Oftmals schaut einer von der SPD herein, fragt, ob sie endlich fertig wären, was sie ein ums andere Mal mit lauten „Lasst-uns-doch-mal-ein-bisschen-Zeit“-Rufen quittieren.
Es ist schließlich Hugo Haase, der kopfschüttelnd nach seiner Zigarre greift, völlig genervt und mit trudelndem Kopf aus den Fraktionsräumen geht.
In Ruhe die Zigarre genießen, denkt er, schneidet sie an, verzichtet auf Rotwein – weil so schon genug Alkohol unter der Decke schwebt – und spaziert zum Plenarsaal.
Viele Besuchergruppen, unscheinbar, wie bunt zusammengewürfelt, strömen sie hinein – und auf einmal geht alles ganz schnell.
Sie steuern gezielt bestimmte Sitze an, wie eine Armee in zivil, schmeißen die Kleidungsstücke hinunter und setzen sich beinahe kerzengerade hin. Einige andere gehen zum Podium, wo der Reichstagspräsident seinen Sitz hat. Plötzlich herrscht Stille, selbst die stark alkoholisierten Männer schweigen. Nirgends wird eine rote Fahne geschwenkt.
Für einen Moment verschlägt es Hugo die Sprache, und er vergisst sogar das Paffen der Zigarre.
Minuten später beginnt es nicht nur im Saal zu arbeiten, sondern auch in seinem Kopf, als er mit ansieht, wie dort zuerst ein Präsident gewählt wird, wie Beschlüsse formuliert werden, wie Reden – ganz nach Hausordnung und traditionellen Gepflogenheiten – geschwungen werden.
Ein Revolutionsparlament, wie aus dem nicht-existierenden Handbuch für Revolutionäre perfekt umgesetzt. Das Problem, das Hugo sieht, ist nicht die Ordnung, die plötzlich wieder Einzug hält. (Sogar ein Sicherheitsdienst wird bestimmt, der manche Besucher wieder nach draußen komplimentiert.) Nein, das Revolutionsparlament macht die Diskussionen der letzten Stunden, die Suche nach gemeinsamen Lösungen für eine Regierungsbildung unter Führung der SPD völlig obsolet.
Wir werden völlig ignoriert!, denkt Hugo verblüfft. Als würde es uns gerade überhaupt nicht geben.

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Beitrag #32 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
21:15 Uhr

Berlin (Reichskanzlei)

Der adelige Duft schwebt noch immer unter der hohen Decke, während Friedrich die Gemälde seiner Vorgänger anschaut, sie der Reihe nach mustert. Dass er hier jetzt steht, würde selbst dem toten Bismarck missfallen, der ihn auch ziemlich kühl aus dem Bild anschaut.
„Gratulation“, sagt Philipp, der im Besuchersitz Platz genommen hat und scheinbar Gedanken lesen kann. „August Bebel wäre stolz auf Dich.“
„Warum tut es mir dann nicht gut?“
„Weil Du noch zu sehr im Gestern behaftet bist“, sagt Philipp und schüttelt den Kopf. „Das hast Du heute Mittag eindrucksvoll zur Schau gestellt.“
Friedrich schaut zu Bethmann-Hollweg, für den vor vielen Jahren die Neutralität Belgiens nur ein Fetzen Papier gewesen ist. Ein Narr, der nichts Gutes hinterlassen hat.
„Weißt Du“, sagt Friedrich und wendet sich von den Gemälden ab. „Ich habe nichts gegen das Reich. Auch nicht gegen die Monarchie, solange sie uns nur genug Einfluss lassen würde.“
Philipp schmunzelt.
„Und jetzt sind sie alle in Pension gegangen, haben die Monarchie mitgenommen und Dich zurückgelassen.“
Friedrich schüttelt den Kopf.
„Sie haben das Reich zurückgelassen. Allein. Und schutzlos.“
Sie schweigen, während von draußen aus der Nacht wieder Schrei und Rufe von irgendwelchen Demonstrationszügen zu hören sind.
„War ein schwerer Tag heute“, sagt Philipp. „Unsere Gefolgschaft steht da draußen und will das Gleiche, was auch wir immer wollten, oder etwa nicht?“
Friedrich beißt sich auf die Lippen.
„Aber wir haben doch schon alles“, meint er. „Und das ohne Revolution.“ Er zeigt zu den Fenstern. „Dadurch, dass sie uns helfen wollen, machen sie alles nur kaputt.“
Philipp steckt sich eine Zigarette in den Mund, zieht den schweren Ascher auf dem Tisch zu sich heran und greift nach seinen Streichhölzern.
„Die Frage ist, was Du willst.“
„Ruhe und Ordnung, Frieden. Wiederaufbau. Und eine Gesellschaft, wie vor dem Krieg, nur viel sozialer, freundlicher, zusammenhaltender.“
„Dann musst Du ein Verräter werden, alter Freund“, sagt Philipp schließlich und zündet sich die Zigarette an. „Oder eben ein zweiter Lenin.“
Schweigen, dass durch das Öffnen der großen Türen unterbrochen wird. Wieder Schritte, die sich nähern. Eilig, hastig.
„Wir haben ein Problem!“, ruft Hugo Hasse mit rotem Kopf, während er immer noch seine kalte Zigarre in Händen hält.

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Beitrag #33 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
22:00 Uhr

Berlin (Reichstag)

Noch nie war Friedrich so schnell gelaufen, und besonders nicht von der Kanzlei in den Reichstag. Und das als Kanzler.
Er atmet schwer, als er die breiten Stufen des Gebäudes nach oben steigt. Hinter ihm sind Philipp und Hugo nicht minder außer Puste.
Sie treten ein, kämpfen sich durch die Menschenmenge, durch lokale Gruppen, die an den Seiten in den Saal hineinschauen. Nirgends wird gerufen oder eine Fahne geschwenkt. Gespenstisch, so ruhig und ordentlich, als wäre er man durch die Zeit nach hinten gereist.
Und dann stehen sie endlich im Plenarsaal, schauen zu den Abgeordnetensitzen, die alle belegt sind. Davor auf den kleinen Tischbereichen säuberlich Papiere, Akten, Notizen aufgereiht. Und auf dem Podium sieht Friedrich Emil Barth.
Er unterdrückt einen Fluch auf den Lippen, während Philipp erschrocken Luft holt.
Emil Barth, einer der Obleute des Januarstreiks. Mächtig. Politisch irgendwo zwischen Liebknecht und Lenin positioniert. Jemand, der andere Ansichten hat. Und so, wie es aussah, steht er gerade nicht alleine da.
Es wird still im Saal. Die Neuankömmlinge sind bemerkt worden. Jeder weiß jetzt, dass der Reichskanzler da an der Tür gegen Meuterer antritt. Dass die amtierende Regierung entweder nichts mehr zu sagen hat, oder sich die Macht mit einer zweiten teilen muss.
Friedrich sieht Hugo an, dann Philipp, der gerade nicht weiß, was er machen soll.
„Guten Abend, Herr Ebert“, donnert Barths Stimme zu ihm herüber. Freundlich lächelnd, wie ein Tiger, der sich aufs geschenkte Mittagessen freut. „Sicherlich möchten Sie hören, was wir heute beschlossen haben, da Sie ja erst jetzt zu uns gestoßen sind.“
Stille, wie so oft in solchen Momenten.
Verräter, denkt sich Friedrich. Oder Lenin?
„Dann lasst hören!“, ruft er Barth zu. „Was wurde beschlossen?“
Auch die Abgeordneten, die mit dem Rücken zu ihm sitzen, drehen sich jetzt zu Friedrich um, der in einem schwarzen Rampenlicht steht.
Barth lächelt.
„Es wurde beschlossen, dass Morgen in allen Fabriken und Kasernen Arbeiter- und Soldatenräte gewählt werden sollen“, ruft er dem Reichskanzler zu. „Und dass sich diese gewählten Räte nachmittags im Circus Busch einfinden sollen, um eine provisorische Regierung zu bilden. Einen Rat der Volksbeauftragten.“
Alles aus. Friedrich ist fassungslos.
Philipp schweigt.
Und Hugo schüttelt nur den Kopf, während Emil Barth sich da oben auf dem Podium als Sieger sieht.
„Nur so kann die Revolution endlich zu einem siegreichen Ende geführt werden!“
Die Abgeordneten fangen an zu klatschen. Vehement.
Und sie hören gar nicht mehr auf.

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Beitrag #34 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
23:30 Uhr

Nachtzug (Irgendwo)

Der Waggon ist beinahe leer, während draußen an den dicken Scheiben die Nacht vorbeifliegt. Das Rattern von den Schienen war anfangs noch ein Problem für die Ohren, aber nach den ersten zig Kilometern hört man es nicht mehr. Besonders, wenn man es sich auf sehr weichen Sitzen bequem gemacht hat. Ab und zu wird die Nacht langsamer, wenn der Zug durch eine Ortschaft oder einen verwaisten Bahnhof fährt. Und sie hält an, wenn es ein Hauptbahnhof ist. So wie jetzt.
An den Gleisen sind kaum Menschen zu sehen. Wahrscheinlich sind sie alle – im ganzen Reichsgebiet – mit roten Fahnen unterwegs. Die typischen Samstagabend-Beschäftigungen – Familienzusammenkünfte, gesellige Runden in Restaurationen – werden heute bestimmt nicht zelebriert.
Ich schaue Heidkamp an, der mir gegenüber sitzt. Stundenlang haben wir uns durch halb München geschlagen, von einer zwielichtigen Ecke in die nächste. Irgendwann hatten wir die Tickets für den Zug. Am späten Nachmittag.
Zwischendurch hatte er mir erklärt, dass es sich bei dem Toten im 'Hansa' um einen Spartakisten gehandelt hatte, der – allerdings im falschen Auftrag – noch mehr Unruhe verursachen sollte. Als er durch Zufall bei der Schießerei in meinem Zimmer – er hatte nur Zuflucht suchen wollen – erschossen worden war, wurde ein Ersatzmann aus Flensburg nach Kiel gebracht.
Und die Spartakisten denken, dass ich die Gunst der Stunde genutzt habe, den Mann erschoss, und es so aussehen ließ, als ob es die Matrosen gewesen wären.
Obskur. Völlig obskur.
Ich habe seit Jahren keine Waffe mehr in der Hand gehabt. Seit ich schreiend bei Verdun vom Schlachtfeld getragen worden bin. Kriegsneurose, haben sie mir damals gesagt.
Und jetzt sitzen wir hier.
Schweigend. Ich. Schlafend. Er.
Ich muss oftmals an den Kameraden denken, den ich im Niemandsland suchen musste, einige Monate vor meinem Zusammenbruch. Ich fand ihn in einem Trichter, holte ihn da raus, weil es damals sein letzter Tag beim Heer war. Er durfte zur Marine. Und er ging einige Monate später mit seinem Schiff am Skagerrak unter.
Sinnlosigkeit.
Es hat sich eingebrannt, denke ich. Und irgendwann stinkt man förmlich danach.
Die Waggontür öffnet sich plötzlich, ein Schaffner kommt herein und nähert sich uns.
Instinktiv bin ich angespannt, aber Heidkamp hatte mir mehrmals erklärt, dass wir hier, in diesem Waggon, völlig sicher seien. Woher er die Erkenntnis nimmt, weiß ich nicht. Aber Vorsicht hat noch nie geschadet.
Der Schaffner schaut erst mich an, dann meinen Begleiter, der gerade die Augen öffnet. Als hätte er nur geschlummert.
„Ein Telegramm, mein Herr“, sagt der Schaffner, reicht ihm das Papier und verschwindet wieder.
„Wer schickt Ihnen denn ein Telegramm?“, will ich wissen, aber er schweigt und liest.
Erst verbissen, dann traurig. Schließlich zerknüllt er das Papier, überlegt es sich, faltet es wieder auf und zerreißt es in kleine Stückchen, die alle in den Abfalleimer zwischen uns wandern.
„Was stand drauf?“, frage ich ihn, und diesmal versucht er es nicht damit, sich abzuwenden und die Frage im Raum schweben zu lassen.
Irgendwas ist passiert, das spüre ich.
„Mein Auftraggeber hat mich von meinem Auftrag entbunden.“
„Und warum?“
Er seufzt.
„Weil … er nicht mehr die Macht dazu hat.“
Ich rolle mit den Augen.
„Es würde mir sehr helfen, wenn Sie endlich einmal in klarer Sprache sprechen würden“, sage ich und beuge mich ein Stück zu ihm hin. „Was meinen Sie damit?“
Er schaut sich um, doch die nächsten Passagiere sitzen einige Sitzgruppen weiter und können uns nicht hören.
„Prinz Max von Baden ist heute als Reichskanzler zurückgetreten.“
Ich mache große Augen, und es fällt mir auf, dass wir bei unserer Flucht durch München überhaupt nichts mitbekommen hatten, was außerhalb der Stadtgrenzen geschehen ist.
„Ihr Auftraggeber?“, frage ich.
„Ja.“
„Was ist denn Ihr Auftrag?“
Er kneift die Augen zusammen, reibt sie sich, bevor er doch zum Fenster in die Nacht hinausschaut.
„Leben retten“, antwortet er. „Auf einen Punkt gebracht.“
„Dann sind Sie Geheimagent, oder sowas?“
Er lächelt.
„Eher ein Mädchen für Alles“, antwortet er, als sich die Nacht da draußen wieder in Bewegung setzt. „Ein Mädchen für schwierige Fälle. Und einer davon hat mit dem Tau zu tun.“
Ich lehne mich wieder zurück.
„Erklären Sie es mir.“
Heidkamp nickt.
„Das Pionierregiment 35 an der Westfront ist mit einem Gas der neuen Generation ausgerüstet. Sie haben es den US-Truppen abgenommen. Offizielle Bezeichnung Lewisit. In der Truppe eben unter dem Namen Tau des Todes bekannt.“
„Und?“
„Aus den Regimentsbeständen verschwanden seit einigen Tagen Gaspatronen“, antwortet er. „Offiziell wurden sie stets gegen die verfolgenden alliierten Truppen eingesetzt. Tatsächlich hat es aber nur einen Gegenangriff mit diesem Gas gegeben.“
Es wird wieder schneller. Das Rütteln, Rucken und Rattern des Zuges kommt zurück ins Bewusstsein.
„Das heißt was?“
Heidkamp starrt mich an, als wäre ich gerade wieder verrückt geworden.
„Das heißt, dass sie verschwunden sind. Und mit Sicherheit sind sie nicht mehr im Armeebesitz, sondern in sehr zwielichtigen Händen.“
Ich schaue auf das Schild über uns, auf dem der Zielort BERLIN (LEHRTER STADTBAHNHOF) steht.
„Ich nehme nicht an, dass das etwas an Ihren Plänen ändern wird, oder?“
Heidkamp schüttelt den Kopf.
„Wir müssen diese Gaspatronen finden“, antwortet er. „Mit oder ohne Kanzler.“

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Beitrag #35 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Samstag, 09.11.18
23:56 Uhr

Compiègne (Lichtung)

In einem der beiden Eisenbahnwaggons, der nicht vom Zorn des Tages erfüllt worden war, sitzen vier Männer dicht beieinander. Der Politiker Matthias Erzberger von der Zentrumspartei. Der General Detlof von Winterfeldt, der Kapitän zur See Ernst Vaselow, und der Diplomat Alfred von Oberndorff.
Sie sitzen 'leger' da, die Mäntel weggelegt, die Hüte irgendwo am Rand.
Und sie sind verzweifelt.
„Das können sie nicht machen“, sagt der Kapitän. „Das war nicht das, was in der Friedensnote des US-Präsidenten stand!“
„Da ist zuviel Hass bei denen“, meint der Diplomat, und es ist faszinierenderweise der General, der darauf antwortet.
„Das können Sie ihnen nicht verdenken“, meint er. „Im Krieg kommt der Hass nie zu kurz.“
„Das sind aber keine Friedensbedingungen“, sagt der Diplomat. „Das ist ein Diktat. Besetzung von Teilen des Reichs, Zahlung immenser Summen, Auslieferung aller Schiffe ...“
„... und im Gegenzug heben sie noch nicht einmal die Handelsblockade auf“, beendet der Kapitän den Satz.
Stille.
„Wenn wir das unterschreiben“, sagt der General, „dann wird die Reichsregierung als williger Untertan der Alliierten dastehen. Und ich kann mir gut vorstellen, dass ein Bürgerkrieg in greifbare Nähe rückt.“
Matthias Erzberger nimmt seine Brille ab, reibt sich die Augen und schaut abwechselnd von einem Gesicht zum Anderen. Von Detlof, über Alfred zu Ernst.
„Bürgerkrieg hin oder her“, sagt er schließlich. „Wir haben keine Wahl.“

Draußen ist es bereits tiefste Nacht.
Und bald wird eine Unterschrift alles verändern.


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Beitrag #36 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Sonntag, 10.11.18
03:00 Uhr

Im Zug nach Berlin (irgendwo)

Die dunkelste Stunde vor dem Sonnenaufgang.
Und ich sehe sie nicht. Der Himmel bleibt düster und unnahbar.
Heidkamp, oder wie auch immer er heißen mag, schläft wieder.
Sein Kopf an die Scheibe gelehnt. Ab und zu, wenn der Zug über Schienenkanten rast, schlägt er kurz dagegen. Aber irgendwie scheint nichts seinen Schlaf zu stören. Oder er ist ein verdammt guter Schauspieler.
So wie der Tote. Ich habe es erst jetzt wirklich verstanden: Ein Spartakist mit SPD-Mitgliedsausweis, im inneren Zirkel der Partei, wurde beauftragt, als Provokateur die Matrosen zu infiltrieren und von innen heraus zu bekämpfen. Nur, dass niemand von der SPD ihm Sprengkisten mitgegeben hatte. Und auch kein Spartakist. Jemand anderes – eine dritte Macht, die keiner zu kennen scheint – sorgte für die Logistik.
Jemand anderes, denke ich. Nur wer?
Ich gebe zu, dass ich als Korrespondent wahrscheinlich nicht viel tauge. Aber es ist ein Job, ein gut bezahlter dazu. Und er lässt mich nicht an Schreibtischen sitzen,ewig lang, wie in den Stellungen in Frankreich. Oder beim Kriegsernährungsamt, in das man mich zwangsversetzte, als herauskam, dass ich bei Waffen wieder in alte Zustände zurückfiel.
Leider ist es nicht nur das, oder die Geschichte um Johann, die mich ein ums andere Mal zweifeln ließ an diesem Leben, an dieser Welt. Da war noch der Sommer vor zwei Jahren.
Ich schaue wieder durchs Fenster ins Nichts hinaus. Der Zug fährt wieder ein Stück langsamer, wahrscheinlich, weil wieder betrunkene Leute mit roten Fahnen die Bahnübergänge blockieren. Ausgelassen feiernd, so wie vor ein paar Stunden, als der Zug halten musste. So wird aus dieser Fahrt eine Ewigkeit, die in meinem Kopf die Zeit zurückdreht.
Es war die Zeit, als das Niemandsland vom Tod beherrscht worden war. Leichen lagen wochenlang in Stacheldrähten. Ratten kamen als dritte Armee hinzu. Überall war der Gestank zu riechen, selbst in den rückwärtigen Gebieten. Die Stehzeiten in den vordersten Reihen wurden erhöht. Seitdem gab es die Acht-Stunden-Regel: Acht Stunden im Kampfgraben, acht Stunden für Verlegungen in und aus dem rückwärtigen Raum mit Verpflegung und anderen dienstlichen Angelegenheiten, und acht Stunden Ruhephase.
Es war die Zeit, als ich die Nachricht bekam, dass Johann, den ich damals gerettet hatte, mit der 'Wiesbaden' untergegangen sei.
Und es war der Moment, als ein verirrter französischer Bomber seine tödliche Fracht über Karlsruhe abwarf. An der Ettlinger Straße. Auf ein Zirkus, in dem gerade für die Kinder eine Vorstellung gegeben wurde.
Ich seufze, und versuche, die Bilder nicht wieder hochkommen zu lassen. Meine Frau und unsere Tochter, beide hatten es noch geschafft, aus dem Hagel herauszukommen, aber letztendlich verbluteten sie in den Händen der Sanitäter.
Nichts. Da draußen.
Und das Nichts ist schon viel zu lange in meinem Herzen.
Vielleicht sollte ich auch schlafen. Für eine lange Zeit.

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Beitrag #37 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Sonntag, 10.11.18
07:00 Uhr

Berlin (Innenstadt)
Hartung'sche Zeitung, Niederlassung Berlin

Casper Clement steht kopfschüttelnd in der Halle, in der es nach Maschinenöl, Druckerschwärze und leichtem Schimmel riecht. Die sechs Druckmaschinen stehen still, und zwei Arbeiter machen sich an ihnen zu schaffen, während die anderen Angestellten – seine Angestellten – das Trauerspiel verfolgen.
„Geht das nicht schneller?“, knurrt er. „Das Papier können wir bald nicht mehr gebrauchen.“
In der Tat hat der Herbst Einzug gehalten, und bringt leider auch Feuchtigkeit in die Räume der Zeitung.
Casper brummt, er knurrt, doch die beiden Männer, die versuchen, die erste Maschine zu reparieren, lassen sich davon nicht stören. Sie sind zwar schnell und flink, aber ein ums andere Mal wissen sie selbst nicht, wo der Fehler zu liegen scheint.
Casper würde am liebsten Schreien. Schon gestern konnte kein Blatt gedruckt werden, und da draußen läuft gerade die Geschichte mit einem Buch durch die Straßen, und schriebt alles hinein, was wichtig ist.
Und er steht hier mit seinen Leuten hier und kann nicht mehr tun, als zu schau-
Klackend springt die erste Maschine an. Man kann den tiefen Seufzer aller Anwesenden hören.
„Wir haben es gefunden, Herr Clement“, sagt einer der beiden Männer.
„Wie lange brauchen Sie für die anderen fünf?“
„Zehn Minuten.“
Casper klatscht in die Hände und wendet sich an seine Angestellten.
„Gut, an die erste Presse“, ruft er. „Sorgt dafür, dass die ersten Blätter möglichst fehlerfrei herauskommen.“
Seine Leute nicken, und machen sich an die Arbeit. Farbtöpfe werden geholt, Buchstaben in die Setzrahmen eingelegt und das Papier zusammengetragen.
Casper nickt zufrieden und verlässt die Halle, geht durch den kleinen Korridor nach vorne, wo das Büro im Empfangsbereich liegt. Seine Sekretärin schaut fragend auf.
„Laufen die Maschinen wieder?“
„Ja.“ Zum ersten Mal seit Stunden fühlt er sich wieder richtig gut. „Wird Zeit, dass auch wir ein Teil der Geschichte da draußen werden.“
Die Tür geht auf. Mehrere Männer, die wie Fabrikarbeiter aussehen, kommen herein. Ihre Mienen sind finster, die Schlapphüte fast tief ins Gesicht gezogen.
„Sind Sie der Chef der Zeitung?“, fragt einer der Männer.
„Ja. Was wünschen Sie?“
Er kommt bedrohlich nah an Casper heran.
„Die Druckerei, wenn Sie nichts dagegen haben“, sagt er mit rauer Stimme, und in seiner Faust sieht Casper einen metallischen Schlagring. „Oder wollen Sie es auf die harte Tour?“
Die Sekretärin erstarrt förmlich. Und Casper verzieht den Mund.
„Sie sind diejenigen, die das vorhin schon beim 'Vorwärts' versucht haben, stimmts?“, zischt er. „Aber da standen die Jäger davor.“
„Richtig“, sagt der Mann. „Aber nicht nur die SPD braucht eine funktionierende Presse; die Freunde von Liebknecht auch.“ Er funkelt Casper böse an. „Also, was ist jetzt? Fresse polieren, oder macht ihr freiwillig einen Abgang?“

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Beitrag #38 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Sonntag, 10.11.18
08:30 Uhr

Berlin (Reichskanzlei)

Es ist voll geworden im Raum.
Neben den toten Kanzlern auf den Gemälden sitzen mehrere Personen an Tischen, die vor ein paar Stunden erst hereingebracht worden waren. Und es wird geplant, gemacht und getan. Jemand hat sogar große, unbedruckte Plakate aus irgendeiner Druckerei herausgeholt, auf denen gerade Zahlen, Orte, Einheiten und Fabriken vermerkt werden. Denn die Wahlen werden bald anlaufen, und Friedrich will so schnell wie möglich wissen, wer wann wo was wählt.
Er sitzt mit Philipp am Schreibtisch, und kann seine innere Unruhe kaum bändigen.
„Es ist zum Verrückt-werden“, knurrt er. „Alle wollen russische Verhältnisse. Wo sind diejenigen, die das Land so wieder haben wollen, wie es einst war?“
„Das ist etwas, das sowieso nicht im Bereich der Möglichkeiten liegt“, sagt Philipp. „Wir haben nur die Chance in diesem Zirkus.“
„Ein Affentheater“, murmelt Friedrich und lehnt sich in seinem Sessel zurück. „Und wir stehen da, als wären wir die Irren, die das ganze Schauspiel zu verantworten haben.“
Philipp ringt sich ein Lächeln ab, als es hinter ihnen im Raum mal wieder lebhafter zugeht.
„Es ist schon komisch“, meint er. „Da haben wir nunendlich das, was Bebel einst wollte, und müssen uns gegen unsere alten Kräfte wehren, die nach Revolution schreien. Irgendwie haben entweder die da draußen nichts gelernt, oder wir.“
Friedrich schaut ihn missmutig an.
„Barth sollte man standrechtlich erschießen“, sagt er leise, aber irgendwie scheint es jeder zu hören. Die anderen Parteimitarbeiter verstummen für einen Moment, und genau da öffnet sich die Tür.
Ein Mann, schon augenscheinlich als ein höherer Beamter mit Brille erkennbar, betritt den Raum, stürmt regelrecht durch die Tischreihen und baut sich bedrohlich vor dem Schreibtisch auf.
„Herr Ebert“, sagt er, und man kann es sehen, dass er die eigentliche Anrede mit „Herr Kanzler“ gerne übersprungen hat. „Ich versuche seit Gestern Sie zu erreichen.“
Friedrich kneift die Augen zusammen und schaut ihn fragend an.
„Wer sind Sie?“
„Unterstaatssekretär Wahnschaffe.“
„Und was wollen Sie so dringendes?“
„Auf eine staatsrechtliche Unmöglichkeit hinweisen.“
„Und welche?“
Wahnschaffe bebt.
„Der Kaiser kann nicht als Kaiser abdanken, und gleichzeitig König von Preußen bleiben, das ist nicht mit der Verfassung vereinbar.“
Philipp mustert den Mann und grinst.
„Ich glaube nicht, dass es heute noch auf eine Formfrage ankommt“, sagt er, doch damit wird das Gesicht des Sekretärs noch zorniger.
„Aber, bei allem mir verbliebenem Respekt“, zischt er. „Es ist eine Unverfrorenheit, dass die Beamten der Kanzlei nicht mehr über diese Angelegenheiten informiert werden.“
Stille.
Friedrich überlegt. Dann sagt er:
„Sie sind der Kanzlei treu ergeben?“
„Immer gewesen.“
„Sie bleiben das, auch wenn sich die Umstände hier im Haus, und im Reich ändern würden?“
Wahnschaffe nickt, etwas gepresst, aber er nickt.
„Wir Beamte sind neutral, nur dem Reich ergeben.“
Philipp nickt auch, und schaut Friedrich scharf an.
„Gut“, sagt der neue Reichskanzler, steht auf und reicht dem Unterstaatssekretär die Hand. „Ab jetzt werden wir die alten Verhältnisse wiederbeleben. Mein Wort drauf.“

Einige Minuten später.
„Du hast recht, Philipp“, meint Friedrich. „Anstatt die Revolution niederzuschießen, sollten 'unsere' Soldaten sie niederstimmen.“
Philipp lächelt zufrieden.
„Ich werde Wels nochmal zu den Jägern schicken.“

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Beitrag #39 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Sonntag, 10.11.18
08:45 Uhr

Berlin (Irgendwo)

Es ist dunkel im Raum, und es riecht nach altem Keller.
„Wir müssen vorsichtig agieren“, sagt die kleine Frau, die am runden Tisch sitzt. Als Einzige unter Männern, die im Schein der spärlichen Lampe nur schwer zu erkennen sind.
Aber darum geht es gar nicht.
„Der Kader muss wieder aufgebaut werden“, sagt sie. „Die 'Rote Fahne' muss in kürzester Zeit wieder raus auf die Straße.“
Einer der Männer meldet sich zu Wort.
„Wir haben wieder eine Presse.“
„Ich hoffe, es ging ohne Gewalt“, fragt sie. „Denn auch diese Arbeiter sind die, um die wir uns kümmern müssen.“
„Es ging ohne“, kommt die knappe Antwort, die sie mit einem kurzen Nicken quittiert, und dann wieder die anderen anschaut.
„Genossen“, sagt sie. „Die Wahlen laufen heute an. Und wir müssen unbedingt im Rat der Volksbeauftragen vertreten sein. Nur dort können wir den Menschen zeigen, was das für Heuchler sind.“
Die Männer nicken.
„Also, geht hinaus, nehmt das Geld und verkündet unsere Worte“, sagt die kleine Frau. „Öffnet denen, die nicht sehen, die Augen.“
„Seit Ihr heute auch im Zirkus, Rosa?“, fragt der Mann, der die Presse besorgt hat.
Sie schaut ihn lange an, bevor sie antwortet.
„Ja. Ich fürchte mich nicht. Ich werde da sein.“
Schweigen. Zustimmendes Brummen.
Dann stehen die Männer auf, gehen hinaus auf die Straße und zerstreuen sich.
Einer von ihnen geht die Hauptstraße entlang, sieht zu Boden und versucht, völlig unbeteiligt zu sein. Nur ein Arbeiter, der zur Abstimmung geht. Vielleicht etwas früh, aber er will schon mal in der Fabrik sein. Nichts verpassen, das wäre eine gute Antwort.
Er geht in eine kleine Gasse hinein, betritt einen Hintereingang, geht durch die Keller mit dem Staub der Kohlen, und öffnet einen kleinen Verschlag.
Dahinter sitzen wieder Männer. Um einen kleineren Tisch mit einer Kerze drauf.
Sie schauen auf. Und einer von ihnen fragt:
„Ist Dir jemand gefolgt?“
„Nein.“ Direkt danach legt er einen Lederbeutel mit Silbermünzen auf den Tisch. „Die glauben immer noch, dass ich einer von denen bin.“
„Hat sich die Lage verändert?“
„Nein. Sie wird auch da sein.“
Der Mann am Tisch steht auf, und die anderen tun es ihm nach.
„Dann legen wir los.“

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Beitrag #40 |

RE: Hartung'sche Zeitung: (Live-Ticker)
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Sonntag, 10.11.18
11:00 Uhr

Berlin (Lehrter Stadtbahnhof)

Langsam fährt der Zug auf das Ende zu. Ein gläserner Halbbogen überspannt die Gleisanlagen und lässt die ersten zarten Sonnenstrahlen ungehindert hinein. Sitzbänke trudeln an unserem Genster vorbei, auf denen wenige bis gar keine Menschen sitzen. Ob das an der Uhrzeit liegt, weiß ich nicht. Normalerweise ist hier immer ein hohes Personenaufkommen. Menschen, mdie raus aus der Stadt wollen, und die, die von ihr magisch angezogen werden. Vor einiger Zeit, ich glaube, es war nach den gescheiterten Frühjahrsoffensiven, waren hier fast ausnahmslos Kriegsversehrte zu sehen. Manche konnten damals noch auf Krücken stehen, bei einigen fehlten Arme, wieder andere wurden auf Bahren herausgetragen und in die Charité verbracht. Jetzt sieht es leer und tot aus.
Es dampft, es quietscht, dann steht die Lokomotive am Prellbock und die Türen werden entriegelt.
Ein Griff, und wir stehen draußen, atmen tief durch nach dieser sehr langen Fahrt. Die Koffer in der Hand marschieren wir langsam zum Ausgang.
„Berlin“, sage ich leise und irgendwie freue ich mich, wieder hier zu sein. Es ist nicht meine Heimat, aber es ist ein guter Ersatz dafür.
Heidkamp schweigt, schaut sich um, sieht niemanden, der verdächtig erscheint, oder der vorhat, uns beide an Ort und Stelle zu erschießen. Also wenden wir uns dem rechten Anbau des Bahnhofs zu, der nach draußen führt.
„Wo sollen wir anfangen zu suchen?“, frage ich ihn, als wir durchs Portal gehen.
Direkt am Eingang, wo früher Droschken standen, steht jetzt ein Planwagen mit einem altaussehenden Pferd davor. Und bevor ich mich wundern kann, kommt eine Frau ins Bild. Sie springt von der Ladefläche herunter, dreht sich um und versucht, ein schweres Fass herunterzuwuchten. Sie schafft es aber nicht.
„Ich glaube, die Dame braucht unsere Hilfe“, sagt Heidkamp, und winkt. „Moment!“
„Ich schaff das schon!“, ruft sie zurück, doch wir sind schon bei ihr.
Lange dunkle Haare, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Normale Figur, aber Arme und Beine wirken, als hätte sie seit Kindesbeinen täglich körperlichen Ertüchtigungen gefrönt.
„Lassen Sie das!“, fährt sie Heidkamp an, als er mit anpacken will.
Es ist eine von den Sachen, die es früher nie gegeben hat: Frauen, die Männertätigkeiten verrichten. Verrichten müssen, denn die Männer wurden ja zum Sterben gebraucht.
Ich verbiete mir den letzten Gedanken.
Heidkamp zieht dann doch mit ihr zusammen an dem Fass, doch es bewegt sich keinen Millimeter.
„Warten Sie, ich glaube, es hängt irgendwo“, sage ich und springe auf die Ladefläche.
Und zu meinem Erstaunen bin ich nicht allein.
Da sitzt ein Mann am anderen Ende der Ladefläche. Langes graues Haar, müde Augen. Schiffermütze und ein langer Mantel, unter dem eine Lederschürze zu erkennen ist, auf der 'UNION BIER“ steht.
Es vergeht so schnell, was dann passiert, obwohl es sich im ersten Moment wie eine Ewigkeit anfühlt.
Der Mann steht halb auf, bleibt gekrümmt unter der Plane, greift in seinen Mantel und gibt mir einen Umschlag. Dann sagt er etwas, was ich nie vergessen werde:
„Ich habe damals auch geweint, Herr Peters. Um jeden.“
Bevor ich irgendwie reagieren kann, rutscht das Fass von der Ladefläche und schlägt auf der Straße auf.
„Gehen Sie“, sagt der Mann. „Jetzt.“
Und ich springe wieder hinunter zu Heidkamp, der gerade von der Frau eine Gardinenpredigt bekommt, die es aus Pietätsgründen niemals in eine Zeitung schaffen wird.
„Gehen wir“, sage ich zu ihm, packe seinen Koffer und ihn selbst, und bringe uns beiden aus der Szene heraus.
Gehen. Immer weiter. Schritt um Schritt. Hinein in die Stadt, hinein in die Menschenmassen. Schweigend. Verkrampft.
Erst als ich mir sicher bin, dass wir weit genug weg sind, will ich ihm den Brief geben. Doch Heidkamp hindert meine Hand daran, mit dem Umschlag aus der Manteltasche zu kommen.
„Der ist für Sie“, sagt er stattdessen. Und er grinst - so habe ich ihn noch nie gesehen.
„Was …?“, will ich ihn fragen, doch er schüttelt den Kopf.
„In unsicheren Zeiten muss man sehr vorsichtig sein“, antwortet er. „Und jemand, der von Hause aus einer Sehnsucht unterliegt, die nicht erlaubt ist, weiß am Besten, wie man unerkannt bleibt.“
Bahnhof, mehr verstehe ich gerade nicht, obwohl derselbige bereits weit hinter uns liegt.
Heidkamp lacht leise.
„Wir sollten uns einen ruhigeren Ort zum Lesen suchen“, meint er. „Denn das dürften definitiv die letzten Worte meines Herrn sein.“

+++++++++++++++Wir halten Sie auf dem Laufenden+++++++++++++++


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