An der Stelle bricht die Erinnerung ab, bleibt es, wie nach dem Riß eines Films, gestaltlos dunkel, vielleicht infolge der Müdigkeit, die Kofler damals nach der langen Reise erschöpft haben muß. Die Fahrt mochte einen ganzen Tag und die vorherige Nacht gedauert haben oder noch länger, denn die Angriffe feindlicher Bombenflugzeuge auf die Bahnstrecke zur Süd- und Südostfront hatten stark zugenommen, die Züge standen häufig und warteten auf die Reparatur der Strecke. Noch Jahre später sah er entlang der Bahnlinie kleine, kreisrunde Seen, wo Bombentrichter sich mit Wasser gefüllt hatten. Vielleicht übernachteten sie vor der Busfahrt ins Tal bei Verwandten in der einzigen Stadt in der Region, wie das bei späteren Reisen der Fall war. Daß der Bub überhaupt mit der Bahn gereist war, dafür besaß er später nur einen indirekten Beweis, das Bild der offenen Münder jener Bauernkinder, die allesamt noch nie eine Eisenbahn gesehen hatten, und denen er das Tempo eines Zuges beschrieb, indem er sagte, die Telegraphenmasten "flögen" vorbei.
Möglicherweise gibt es noch einen anderen Grund, warum Kofler sich nicht erinnert, wie er das Haus der Großmutter betrat. Die Erinnerung nähert sich dem nächtlichen Umriß, bleibt aber vor der Tür, tritt nicht über die Schwelle. Berge bestimmen das Bild, die hohen, gezackten Kammlinien, die Weite eines sternklaren Himmels darüber, die tiefe Geborgenheit des nächtlichen Taltroges darunter. Die Erinnerung bleibt draußen, im Freien, als fürchtete sie, in eine Falle zu geraten. Sperrte sich schon bei diesem ersten Mal etwas gegen das Eintreten, wie es sich fortan gegen das Betreten fremder Häuser sperrte? (S. 47f.)
Erst in späteren Jahren, nachdem der Vater aus der Gefangenschaft heimgekehrt war und sie alle zusammen Doberig verlassen hatten, begann er die wahre Geschichte des Krieges und der Zeit davor zu erahnen. Mit jeder neuen (immer schrecklicher als die vorige) Tatsache wurde es bald unmöglich zu glauben, seine Eltern, die doch höhere Schulen besucht und etwas über die Welt und das Tun der Menschen wissen mußten, hätten die Zeichen nicht erkennen können. Er suchte zu ergründen, wann sich der Wandel von der Unschuld zu Parteigängern des Unrechts und der Gewalt vollzogen hatte. Denn es mußte eine Zeit der Unschuld gegeben haben, und für die der Mutter besaß Kofler sogar einen Beweis. Sie hatte von Kindheit an ein Tagebuch geführt, wie sie es später für ihre Kinder tat. Während jene für die Kinder geschriebenen Bücher erhalten blieben, gingen ihre eigenen Bücher bis auf einen dünnen Band aus dem Jahr 1922 verloren. Mutter wurde dreizehn Jahre alt und stellte zur Geburtstagsfeier eine Liste der Gäste zusammen. Ihr Vater verlangte, diese zu sehen, und strich einen Namen. Gegen Vaters Autorität wagte das Kind nicht aufzubegehren, doch dem Tagebuch vertraute es seinen Kummer an.
"Papa verbat sich das Kommen von Grete mit den Worten: Ich mache aus meinem Haus keine Synagoge! Daß ausgerechnet meine beste Freundin nicht kommen darf, verdirbt mir die ganze Freude." (S. 122f.)
© 1999, Otto Müller, Salzburg, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.