Leseprobe:
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Er war 40 Jahre und ein paar Monate alt. Vier Jahrzehnte
hinter sich. Noch einige Jahrzehnte vor sich, um
deren Gestaltung er sich bisher nicht gekümmert hatte.
Sterben würde jeder, irgendwann. Ob an Altersschwäche,
Krankheit, durch Krieg, Terror, Gewalt ... letztendlich
war diesem ›Lebensziel‹ in seiner unverrückbaren Un -
ausweichlichkeit nichts entgegenzusetzen. In gewissem
Sinne war das ein nicht in Frage zu stellender Richtwert.
Die Zeit bis dahin rumzukriegen, schien von Hubertus
plötzlich eine Art Positionierungs entscheidung zu fordern.
Er kannte die Ausdünstung von Menschen, die im Glück-
lichsein unglücklich waren. Und die von solchen, die
im Unglücklichsein ihr Glück fanden. Jeder hatte sein
Lieblingsgefühl, an dem er sich wie an einer Krücke festhalten
konnte und mit dieser bevorzugten Lebenseinstellung durch
die Jahre und Jahrzehnte humpelte.
Jäh witterte Hubertus in dieser fremden Stadt das Keimen
einer diffusen Ahnung. Gerüche längst vergangener Zeiten,
so undeutlich wie Luftspiegelungen, forschten nach ihrem
Weg durch die verschütteten Stollen seiner Erinnerung. Er
fühlte sich, als käme etwas auf ihn zu, das ihn nötigen würde,
sein eigenwilliges Vakuum zu verlassen. Ein Vakuum, das
er, eingebunden in eine befriedigende berufliche Tätigkeit,
annehmlichen Komfort und ein ausgeglichenes Alltagsleben,
als durchaus lebensnah, bequem und gefällig betrachtete.
Hubertus, ›Der durch Klugheit Glänzende‹, aus dem
Althochdeutschen. Als Wildschutz-Patron aufs schiere Jäger-
latein reduziert. Wie gerne wäre er damals der gewesen, der
durch Klugheit geglänzt hätte.
Der Hund des Vaters hatte den Namen Hubertus
getragen. Das Tier war an Altersschwäche gestorben, einige
Zeit vor Hubertus' Geburt. Noch absurder als die Tatsache,
wie ein Wild-Spezialitätenrestaurant zu heißen, kam es ihm
vor, nach einem toten Hund benannt worden zu sein.
Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens auf dieser Erde
hatte er im Elternhaus verbracht, in der Enge der dörflichen
Gemeinschaft gefangen. Die zweiten zwanzig Jahre hatte er
in Wien gelebt. Über die kommenden Jahrzehnte – sollte er
sie erleben – war er sich nicht im Klaren. Genauso wenig, wie
er nicht ergründen konnte, warum er nicht schon viel früher
aus seinem Elternhaus geflüchtet war. Warum er damals so
lange gewartet hatte. Bis es zu spät war.
Seit dieser Zugfahrt, seit er in der Nacht aufgewacht war
und fast verschämt seine Aufzeichnungen in das Notizbuch
gemacht hatte, durchzogen fremdartige Zweifel seine Gedan-
ken, ob denn sein Leben konzeptlos, inhaltslos war. Lebte er
einfach nur so dahin? Flüchtiges und Unerklärliches, Ver-
mutungen und Möglichkeiten schlummerten hinter dem
Schleier der Gelassenheit, den er sich wie einen Mantel zum
Schutz vor eisiger Kälte übergeworfen hatte.
In lange vergangenen Zeiten hatte er vollständig auf
seinen Geruchssinn zählen können. Damals hatte er keinen
Zweifel daran gehegt, mit dem, was ihm seine Nase sagte,
richtig zu liegen. Bis er sich einmal, mit fatalem Ausgang,
vertan hatte. Wie gemurmelte Geschichten erschienen ihm
die olfaktorischen Spuren, an deren Fährte er sich heften
könnte, ließe er es wieder zu. Fast schien ihm der auch
nur angedachte Versuch, ihre Geheimnisse zu entdecken,
ihre Monologe zu enträtseln, ihr Flüstern zum Klingen zu
bringen, einer existenziellen Bedrohung gleich. Und doch
sehnte er sich plötzlich danach, seinem Riechen wieder so
unverbrüchlich zu vertrauen, wie es in seiner Kindheit für
ihn selbstverständlich gewesen war.
Und die anderen Dinge, die in seinem Geist auftauchten
und die er sich ab und zu notierte? Was hatte es auf sich
mit den Unergründlichkeiten, deren Existenz er erahnte, die
aber doch in krausem Gegensatz zum freiwillig gewählten
Unverwüstlichen, fast Reizlosen seines Alltagslebens standen?
Sie fanden sich als Versatzstücke auf Notizzetteln verteilt,
die auf seinem Schreibtisch, in seiner Aktentasche oder in
Fachbüchern immer wieder auftauchten. Oder verloren
gingen. Oder gar nicht aufgeschrieben wurden.
Er war froh, mit seiner beruflichen Tätigkeit einen Halt,
eine einigermaßen zufriedenstellende Linie zu haben, die
ihm quasi vor sich selbst eine Existenzberechtigung gab. Fast
langweilte ihn sein plötzlich aufgetauchtes Kümmernis. Er
war keiner, der klagte oder sich beschwerte. Unversehens war
er hier in Florenz, eigentlich schon seit seinem nächtlichen
Aufwachen, mit der Suche nach dem Sinn des Lebens
konfrontiert worden. Es kam ihm pathetisch vor, wenn er es
so formulierte, gleichwohl wollte er sich trotz seiner Abscheu
vor jeglichem Pathos mit diesem eigenwillig aufgestiegenen
Bereich auseinandersetzen. Er hätte gerne mit der zweiten
Hälfte seiner Lebensjahre budgetiert, hätte gern einen
Masterplan aufgestellt, um nicht als alter Mann Rechen-
schaft ablegen zu müssen. Vor einer Instanz, an die er nicht
einmal glaubte. Er beanstandete jählings, dass der Mensch in
solchen Dimensionen denken sollte.
Er nahm sein Notizbuch, las nochmals seinen ersten
Eintrag darin und hielt stichwortartig die Formung der
Aromen fest, die ihn auf diesem sonnendurchwirkten Platz
umschwappten. Ein Geruchs-Notizbuch? Er betrachtete
konsterniert seine Handschrift auf dem Papier, fragte sich,
was ihn genötigt hatte, sich wieder dem zu widmen, was er
sich so lange schon zu vergessen abgerungen hatte.
Irgendetwas hatte das System zu Bruch gebracht. Etwas
ganz Bestimmtes hatte sein System des Vergessens zu Bruch
gebracht. Gestern. Ein Prospekt über einen Vortrag. Ein
Prospekt, der auf einem Pult in einer Bibliothek gelegen
hatte.
(S. 23-26)
© 2016 Verlag Wortreich, Wien.