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Valerie Springer: Ein paar Tage in einer fremden Stadt.

 

Leseprobe:

8

Er war 40 Jahre und ein paar Monate alt. Vier Jahrzehnte

hinter sich. Noch einige Jahrzehnte vor sich, um

deren Gestaltung er sich bisher nicht gekümmert hatte.

Sterben würde jeder, irgendwann. Ob an Altersschwäche,

Krankheit, durch Krieg, Terror, Gewalt ... letztendlich

war diesem ›Lebensziel‹ in seiner unverrückbaren Un -

ausweichlichkeit nichts entgegenzusetzen. In gewissem

Sinne war das ein nicht in Frage zu stellender Richtwert.

Die Zeit bis dahin rumzukriegen, schien von Hubertus

plötzlich eine Art Positionierungs entscheidung zu fordern.

Er kannte die Ausdünstung von Menschen, die im Glück-

lichsein unglücklich waren. Und die von solchen, die

im Unglücklichsein ihr Glück fanden. Jeder hatte sein

Lieblingsgefühl, an dem er sich wie an einer Krücke festhalten

konnte und mit dieser bevorzugten Lebenseinstellung durch

die Jahre und Jahrzehnte humpelte.

Jäh witterte Hubertus in dieser fremden Stadt das Keimen

einer diffusen Ahnung. Gerüche längst vergangener Zeiten,

so undeutlich wie Luftspiegelungen, forschten nach ihrem

Weg durch die verschütteten Stollen seiner Erinnerung. Er

fühlte sich, als käme etwas auf ihn zu, das ihn nötigen würde,

sein eigenwilliges Vakuum zu verlassen. Ein Vakuum, das

er, eingebunden in eine befriedigende berufliche Tätigkeit,

annehmlichen Komfort und ein ausgeglichenes Alltagsleben,

als durchaus lebensnah, bequem und gefällig betrachtete.

Hubertus, ›Der durch Klugheit Glänzende‹, aus dem

Althochdeutschen. Als Wildschutz-Patron aufs schiere Jäger-

latein reduziert. Wie gerne wäre er damals der gewesen, der

durch Klugheit geglänzt hätte.

Der Hund des Vaters hatte den Namen Hubertus

getragen. Das Tier war an Altersschwäche gestorben, einige

Zeit vor Hubertus' Geburt. Noch absurder als die Tatsache,

wie ein Wild-Spezialitätenrestaurant zu heißen, kam es ihm

vor, nach einem toten Hund benannt worden zu sein.

Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens auf dieser Erde

hatte er im Elternhaus verbracht, in der Enge der dörflichen

Gemeinschaft gefangen. Die zweiten zwanzig Jahre hatte er

in Wien gelebt. Über die kommenden Jahrzehnte – sollte er

sie erleben – war er sich nicht im Klaren. Genauso wenig, wie

er nicht ergründen konnte, warum er nicht schon viel früher

aus seinem Elternhaus geflüchtet war. Warum er damals so

lange gewartet hatte. Bis es zu spät war.

Seit dieser Zugfahrt, seit er in der Nacht aufgewacht war

und fast verschämt seine Aufzeichnungen in das Notizbuch

gemacht hatte, durchzogen fremdartige Zweifel seine Gedan-

ken, ob denn sein Leben konzeptlos, inhaltslos war. Lebte er

einfach nur so dahin? Flüchtiges und Unerklärliches, Ver-

mutungen und Möglichkeiten schlummerten hinter dem

Schleier der Gelassenheit, den er sich wie einen Mantel zum

Schutz vor eisiger Kälte übergeworfen hatte.

In lange vergangenen Zeiten hatte er vollständig auf

seinen Geruchssinn zählen können. Damals hatte er keinen

Zweifel daran gehegt, mit dem, was ihm seine Nase sagte,

richtig zu liegen. Bis er sich einmal, mit fatalem Ausgang,

vertan hatte. Wie gemurmelte Geschichten erschienen ihm

die olfaktorischen Spuren, an deren Fährte er sich heften

könnte, ließe er es wieder zu. Fast schien ihm der auch

nur angedachte Versuch, ihre Geheimnisse zu entdecken,

ihre Monologe zu enträtseln, ihr Flüstern zum Klingen zu

bringen, einer existenziellen Bedrohung gleich. Und doch

sehnte er sich plötzlich danach, seinem Riechen wieder so

unverbrüchlich zu vertrauen, wie es in seiner Kindheit für

ihn selbstverständlich gewesen war.

Und die anderen Dinge, die in seinem Geist auftauchten

und die er sich ab und zu notierte? Was hatte es auf sich

mit den Unergründlichkeiten, deren Existenz er erahnte, die

aber doch in krausem Gegensatz zum freiwillig gewählten

Unverwüstlichen, fast Reizlosen seines Alltagslebens standen?

Sie fanden sich als Versatzstücke auf Notizzetteln verteilt,

die auf seinem Schreibtisch, in seiner Aktentasche oder in

Fachbüchern immer wieder auftauchten. Oder verloren

gingen. Oder gar nicht aufgeschrieben wurden.

Er war froh, mit seiner beruflichen Tätigkeit einen Halt,

eine einigermaßen zufriedenstellende Linie zu haben, die

ihm quasi vor sich selbst eine Existenzberechtigung gab. Fast

langweilte ihn sein plötzlich aufgetauchtes Kümmernis. Er

war keiner, der klagte oder sich beschwerte. Unversehens war

er hier in Florenz, eigentlich schon seit seinem nächtlichen

Aufwachen, mit der Suche nach dem Sinn des Lebens

konfrontiert worden. Es kam ihm pathetisch vor, wenn er es

so formulierte, gleichwohl wollte er sich trotz seiner Abscheu

vor jeglichem Pathos mit diesem eigenwillig aufgestiegenen

Bereich auseinandersetzen. Er hätte gerne mit der zweiten

Hälfte seiner Lebensjahre budgetiert, hätte gern einen

Masterplan aufgestellt, um nicht als alter Mann Rechen-

schaft ablegen zu müssen. Vor einer Instanz, an die er nicht

einmal glaubte. Er beanstandete jählings, dass der Mensch in

solchen Dimensionen denken sollte.

Er nahm sein Notizbuch, las nochmals seinen ersten

Eintrag darin und hielt stichwortartig die Formung der

Aromen fest, die ihn auf diesem sonnendurchwirkten Platz

umschwappten. Ein Geruchs-Notizbuch? Er betrachtete

konsterniert seine Handschrift auf dem Papier, fragte sich,

was ihn genötigt hatte, sich wieder dem zu widmen, was er

sich so lange schon zu vergessen abgerungen hatte.

Irgendetwas hatte das System zu Bruch gebracht. Etwas

ganz Bestimmtes hatte sein System des Vergessens zu Bruch

gebracht. Gestern. Ein Prospekt über einen Vortrag. Ein

Prospekt, der auf einem Pult in einer Bibliothek gelegen

hatte.

(S. 23-26)

© 2016 Verlag Wortreich, Wien.


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