Leseprobe:
liebe anja: ich denke immer noch nach über unser telefongespräch
von letzter nacht - die schweren alphamännchen der orang-utans
die sich gegenseitig nicht ausstehen können · das revier dominieren
auf ihre einzelgängerische weise · und jedes willige weibchen zu sich
kommen lassen - während die kleineren betamännchen erwachsene
gefangen in den körpern von noch pubertierenden jungen darstellen
die mit den weibchen umherziehen - bis sie eine gelegenheit finden
sie zu vergewaltigen · bauch über dem gürtel und in grabenkämpfe
mit den abteilungsleitern verstrickt stets meine präsenz markierend
und dabei von meinem büro lange tiefe rufe in die leere ausstossend
auf eine frau wartend · was ich stolz nenne heissen andere arroganz
aber es ist jene innere ruhe die sich einstellt wenn man einen status
und rang erreicht hat - all die über jahre entwickelten aggressionen
um an eine spitzenposition zu gelangen in der man vor keinem mehr
kriechen muss - ein gesichtsausdruck genügt missfallen kundzutun
was ich als leistung eines lebens erachte - umsomehr als es stets galt
mein einmal brütendes ein andermal unkontrolliertes wirres wesen
hinter einer gleichmütigen maske zu halten - sieht man als stereotyp
eines erfolgreichen wirtschaftsmenschen wenn nicht gar als karikatur
denn das eigentlich private - die unerklärliche liebe für gewisse dinge
grosse wie kleine macken und das kindliche in einem - versteckt man
damit es nicht angetastet werden kann · deine beobachtungen jedoch
haben mir klar gemacht dass in einem solchen karrieredenken auch
primatenhafte notwendigkeiten zum vorschein kommen - männchen
die grösser und muskulöser als die weibchen werden weil sie in sich
keine kinder austragen und darum das futterrevier der kleinen truppe
zu verteidigen haben: bestrebt es weiter auszudehnen · konkurrenten
auszuschalten · die eigenen weibchen zu ernähren · neue zu erobern
ich sehe mich also als orang-utan - während ich es in meinem beruf
mit gorillas zu tun habe die neben ihrem silberrücken noch weitere
statusmarkierungen ihres rangs vorweisen: sie überragen die gruppe
und geben tiefere laute von sich · nehmen raumgreifende posen ein
schlagen sich auf die brust und strahlen jene körperliche stärke aus
die ich von den allermeisten managern kenne - keiner von ihnen
ist kleiner als 1,80 · ihre stimme ein bass · der körper gut trainiert
für ihr alter · das haar noch voll aber graumeliert: ah - wie sie sich
raumfüllend vor ihren untergebenen aufbauen und sich ausbreiten
hinter ihren büroschreibtischen · ihre reden voll von prestigepausen
und apodiktischen sätzen · und ich musste auch über anderes grinsen:
‘könnten wir doch wie gorillas auf irgendeiner bergwiese sitzen und
friedlich an blättern kauen um in stabilen gruppen zu leben’ hast du
gesagt: ‘doch weil wir nicht deren verdauungstrakt besitzen sind wir
beständig auf nachschub an kalorienreicher aber seltener nahrung
angewiesen’ · wenn ich nur daran denke wieviel zeit wir investieren
um gut essen zu gehen und wie wir die einzelnen gänge zelebrieren
muss ich lachen · ‘verlorenes territorium bedeutet für ein männchen
den tod’ - das bestätigt mir jede gescheiterte werbekampagne - doch
das entscheidende ist die hierarchie in unseren affenmänner-bünden:
wer sein revier und seine truppe dominiert erhält den besten zugang
zu den weibchen - so simpel ist das · und die kulturelle verbrämung
dieses faktums genau das: ein tranquilizer den wir - ironie der ironie -
an affen auf seine verträglichkeit testen · um damit nun umso besser
in der lage zu sein das eigene futterrevier gegen fremde zu behaupten
sie möglichst ganz beiseite zu schaffen und am liebsten abzuschieben
ah wie lächerlich wenn wir schweizer uns brüsten wir wären neutral
und unsere gesellschaft ein modell des zivilen: wir profitieren bloss
von unserer alpenlage - minen vergraben an strategischen brückenund
passübergängen · bunker in die berge gesprengt mit genügend
nahrung und wasser versehen um lange belagerungen auszusitzen
wehrpficht · manöver · und jeder ein gewehr zuhause im schrank
aber was ist das ‘schweizerische’ - im unterschied zum ‘deutschen’?
soweit ich es verstehe beruht es weniger auf territorialen grenzen
als auf jeweils anderen ameisenartigen eigenschaften: das was man
‘verfassungspatriotismus’ nennt - der jeweils etwas andere aspekte
des gemeinwohls akzentuiert · ihm nützt dass die natur nicht nur
das fitteste individuum bevorzugt sondern gleichzeitig die gruppe -
den staat den sie bilden - auf überlebensfähigkeit prüft · einerseits
befördert sie das egoistische - andererseits jedoch das kooperative
eigennutz heisst sich bei jeglicher gefahr zu verdrücken · auf kosten
anderer sich zu bereichern · bei bedarf zu lügen und zu betrügen
eines kleinen vorteils wegen - doch wird eine solche ansammlung
von egoisten einer gesellschaft von uneigennützig kooperierenden
immer unterlegen und ihr territorium schnell eingenommen sein -
jeder profitiert und prosperiert ja von und in einer gemeinschaft -
gehts allen gut gehts auch dem einzelnen gut - was man umgekehrt
nicht behaupten kann · weshalb sonst ziehen soldaten in den krieg?
wir mögen noch so auf uns selber schauen - letztlich gehen wir auf
in der familie · in firmen und parteien · in gesetzen und hierarchien
in sozialstaat und gesundheitswesen · selbst in sprache und religion
gegen solche körperschaften wird man jedoch nie gewinnen können
der widerstreit zwischen einzelnen und der gruppe in der sie leben
bedingt all das was wir ‘gut’ und ‘böse’ · ‘tugend’ und ‘laster’ nennen
einer gegen alle - und alle gegen einen - solitäres wie solidarisches
selbstsucht zwischen hass und liebe in prekärem ungleichgewicht
wir alle haben ein doppelgesicht - bloss zeigen wollen wir es nicht
unangenehme wahrheiten - die allgemeinen wie meine allzu privaten
ich trage hier gewissermassen mein herz auf dem manschettenärmel
weiss das macht mich wenig attraktiv - und beharre dennoch darauf
als wäre gerade eine derartige offenheit der ausweis eines alphatiers
das sich unverblümte ehrlichkeit leisten kann - ganz egal was kommt
während die frau - wenn wir an den in uns verborgenen affen denken -
sich dann durch solche arten von männlichkeit verführen lassen will?
solche zuwendungen - die dann vergewaltigung und häusliche gewalt
nach sich ziehen - sollen laut dir bei den primaten nur eines bewirken:
sich das weibchen verfügbar zu halten · wollen wir das durchschauen?
wäre die liebe dann immer noch illusion? wenn wir auch diesen tiger
über uns sich strecken sehen - so gelassen und unberechenbar wie je
ein gott · doch seine gewalt von der winterhelle des himmels enttarnt
schwarze längsstreifen auf einem rotgoldenen fell · dein christopher
lieber christopher: das ist die wohl seltsamste brautwerbung die mir
bisher untergekommen ist · und ich weiss jetzt offen gestanden nicht
wie darauf reagieren · ja - da war der eine augenblick vor dem gehege
ja - das sind unsere stimmen am telefon und unsere schreiben · aber -
nein: ich sehe dabei nicht dich sondern vielmehr - oder viel weniger:
zwei unterschiedliche silhouetten - ohne dass diese für mich als eine
greifbar würden: da ist die person die du darstellst und das geheime
denken hinter dieser maske · da ist eine körperliche anziehung - ja -
und ein interesse zwischen uns - trotzdem weiss ich nicht zu sagen
was liebe ausmacht: wie sie einen findet und womit sie einen bindet
will ich es überhaupt wissen? nein und ja · denke ich daran schaue ich
auf das armdicke stück ast in meinem regal - auf die dünnen tunnel
der käferlarven darin · die kratzer und bissmarken · diese eine stelle
wo ein zweig abgerissen wurde · ich sah einen etwa achtjährigen affen -
maluma - es am boden aufgreifen es sich an den bauch halten damit
umherrollen und es dann hinter sich herschleifen · er zog es hinauf
in den baum · legte es beim fressen neben sich - oder spielte damit
indem er es - auf dem rücken liegend - über sich hin und her drehte
bis seine truppe weiterzog und er es im sumpf zurückliess · das ist
liebe für mich - und ich meine damit nicht das für mich oder jeden
naheliegendste - kinderwunsch · trophäe · spiel - vielmehr dass sie
ein symbol ist für etwas das ich nicht anders benennen kann als mit
der bedeutung dieses harten und dunklen stück holzes · deine anja
(S. 550-553)
© 2016 Hanser Verlag, München