Leseprobe:
venedig bei sturz
Albert war 28 Jahre alt, als er zum ersten Mal über die Rialtobrücke ging. Damals, erinnert er sich jetzt, während er fällt, gab es hier auch schon jede Menge Touristen, aber nicht so viele Japaner, nicht so viele ineinander verschmolzene Gesichter in Gruppen, die sich entweder Kameras oder Reiseführer vor die Nase halten. Eine Familie, eine Kamera. Der Daumen am rechten Knopf, man drehte und drückte. Man hatte immer Reservefilmrollen in der Hosentasche, man überlegte sich eine Komposition: die Piazza San Marco, die Tauben, die Menschen, die, eine Hand am Sonnenhut, hinauf auf die Dächer sahen. Er sah damals nicht auf die Dächer, sondern auf rote Haare und weiße Haut. Weil er mit einem Mädchen auf die Brücke gegangen war. Und dieses Mädchen stand einige Stufen über ihm und dachte dar nicht daran, dass Albert sich gerade jetzt in sie verliebte. Sie stand nur da mit ihrem Nacken und mit ihrem Haar, das sich in der Sonne wandelte. Ihr Haar verlor seine rostige Farbe und strahlte, als ob jemand Glitzer darüber gestreut hätte. Eigentlich war Albert durch diesen Moment für immer geprägt, denn er suchte von nun an, wohin er auch ging, dieses Glitzern. Sein Blick folgte roten Zöpfen, egal ob im Fernsehen, auf Urlaub oder in einem Kaufhaus. Seine Hände wurden wie Magnete angezogen und immer in letzter Minute fiel ihm ein, dass man das nicht tut. Fremde Haare mit gierigen Fingern befühlen. Warum? Warum benimmt man sich, um anderen zu gefallen, und dann stirbt man so leicht, ohne sich selbst zu gefallen.
(S. 56)
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