Leseprobe:
CAHIERS
Chantal Blanchard
Siebtes Heft –
November 2010
bis März 2011
(S. 13-14)
Am 7. September wurde im Mer de Glace des Mont-Blanc-Massivs, im Bereich des auf 1.913 m Seehöhe liegenden Montenvers, etwa 1,35 Kilometer nordwestlich der an der Gletscherzunge gelegenen Talstation die Mumie einer jungen Frau samt Kleidung und Ausrüstung gefunden. Ihr Gesicht kam unter einer dünnen, durchsichtigen Eisschicht zutage. Die nichtsahnenden Entdecker – ein wanderndes lettisches Ehepaar in den Flitterwochen – standen unter Schock und mussten von Fachkräften vor Ort psychologisch betreut werden. Seit 150 Jahren befindet sich der größte Gletscher Frankreichs auf konti- nuierlichem Rückzug. Das Eismeer verkürzte sich in dieser Zeit infolge der Erderwärmung um 2000 Meter, während es sich um bis zu 130 Meter verdünnte. Infolge warmer und trockener Witterung war die Leiche, die Anfang des Jahres wohl noch mehrere Meter tief unter Eis lag, wie von einer plötzlichen Ungeduld befallen, ungewöhnlich rasch der Oberfläche näher gerückt. Die gedunkelte Lederhaut der Mumie lag nach unzähligen Jahrzehnten das erste Mal wieder an der Sonne. Über 130 Jahre war sie, geschützt vor Erosion und Zersetzung, zur Gänze von Eis umschlossen gewesen. Sublimationsprozesse hatten den Leib der fünfundzwanzigjährig verstorbenen Frau gefriergetrocknet. Selbst die inneren Organe sind gut erhalten. Voraussichtlich hat der in seinem Eisbett liegende Leichnam beinahe ein Jahrhundert in einer Felsmulde zugebracht, ehe er die kilometerweite Wanderung des Eisstroms von den höchsten Regionen bis ins Tal antrat. Ersten Nachforschungen zufolge handelt es sich bei der Mumie um die im Jahr 1878 verunglückte französische Japanreisende Paulette Blanchard. Unter den Beifunden befand sich ein mitgeführtes Notizbuch, dessen Seiten sich zwar als unwiederbringlich zerfallen erwiesen, auf dessen Ledereinband man allerdings den Namen der jungen Frau eingraviert fand. Sie war im Sommer 1878, offenbar alleine, zu einer mehrtägigen Wanderung in das Mont-Blanc-Massiv aufgebrochen. Nähere Umstände sind bislang unbekannt.
Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde:
»Der Naturforscher SAUSSÜRE soll, vom Mont Blanc aus, den aufgehenden Mond so groß gesehn haben, daß er ihn nicht erkannte und vor Schreck ohnmächtig ward.«
Die Knie weich, die zittrige Hand, und vor den
Augen ein Flirren ..........