(S. 336f)
Das abgenutzte Mobiliar im Büro des Untersuchungsrichters, das in der Farbe mit dem Semmelblond seines Haars korrespondierte, die grüne Schreibunterlage aus Kunststoff, all das schien mir so weit von unserer heutigen Zeit entfernt. Einzig der PC schien auf das Jahrzehnt zu verweisen, in dem wir uns befanden. Sonst erinnerte der Raum an eine ländliche Pfarrkanzlei aus den frühen siebziger Jahren. Ein Ambiente, in dem Ehevorbereitungsgespräche abgehalten wurden. Trotz meiner Bedrängnis war dieser Gedanke vorhin in mir aufgetaucht, als mein Gegenüber telefonierte. Und schon glich der Untersuchungsrichter in meinen Augen eher einem geplagten Landpfarrer als einem forschen Justizmenschen. Ich konnte mir bei dem sehnig-hageren Mann gut vorstellen, dass der von einem in der Einschicht gelegenen Hof stammende strebsame Schüler und brave Ministrant auf Betreiben des Dorfpfarrers und mit finanzieller Unterstützung der römisch-katholischen Kirche ins Boromäum geschickt worden war, um aus ihm ebenfalls einen Dorfpfarrer zu machen.
Ich verspürte Sympathien für den Menschen, von dem nichts von der heute alles bestimmenden Aggressivität ausging und der ganz offenkundig auch nicht zu den Blendern gehörte, die in sämtlichen Bereichen unserer Gesellschaft nach oben schossen. Ich empfand diese Zuneigung, obwohl den Mann angesichts der Faktenlage meine unbewiesenen Unschuldsvermutungen überhaupt nicht beeindruckten und er im Begriff war, gewissenhaft meine Verurteilung vorzubereiten. - Aber sollte ich deswegen eine Tat eingestehen, die ich nicht begangen hatte? Oder war womöglich wirklich alles ganz anders? Worauf gründete angesichts der erdrückenden Indizienkette überhaupt meine Gewissheit, Barbara Lochner nicht doch getötet zu haben?
War es vollkommen ausgeschlossen, dass ich die im Affekt verübte Tat in Folge des von ihr ausgelösten Schocks dermaßen gründlich aus meinem Bewusstsein verbannt hatte, dass ich mich einfach nicht mehr an sie zu erinnern vermeinte? Lügte ich sozusagen nach bestem Wissen und Gewissen - im Schutz eines massiven psychischen Verdrängungsprozesses? Und war die Erinnerung an mein Verbrechen vielleicht über den Umweg des Alptraums von heute Nacht in meine Wahrnehmung zurückgekehrt?
© 2007 Residenz Verlag, St. Pölten-Salzburg.