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Leseprobe: Ilse Kilic - "Das Wort als schöne Kunst betrachtet."



Das süße Leben

Auf der Wiese stand ein Fabelwesen. Seine siebzehn hellen Augen leuchteten blau wie der Wiesenenzian, seine beiden Münder glühten mohnblumenrot. Ein Mund kaute an einem Runkelrübchen aus der Familie der Gänsefußgewächse. Das Runkelrübchen schmeckte etwas holzig, erfüllte aber den kauenden Mund mit wunderbarer Süße. Zugleich breitete sich ein Kribbeln im Hals des Fabelwesens aus. Schon schwoll dem Wesen die Brust vor so viel Süße. Aus dem Mund quoll alsbald das süße Leben. Das süße Leben wurde schnell in aller Welt bekannt, wenngleich es nicht in aller Munde war. Vom süßen Leben hing fortan das Glück ab. Dieses Glück war aber nicht allen Menschen beschert. Das süße Leben war nämlich so teuer, dass es zunächst fast ausschließlich als Medikament gegen Magen-, Darm-, Nieren-, Augen- und Ohrenleiden in Apotheken verkauft wurde. Sein Zuckergehalt schwankte je nach Witterung zwischen 16 und 19 Prozent. Aus dem süßen Leben wurden außerdem Konfekte und Liköre hergestellt, die dazu dienten, den Reichen das Leben zu versüßen. Das Fabelwesen, aus dessen Mund das süße Leben quoll, wurde durch Teilung vermehrt, durch Walzen gepresst und zum Patent angemeldet. Das süße Leben erlebte einen Boom. Die Gesellschaft schied sich in jene, die das süße Leben in Besitz zu bringen wussten, eine Art begieriger, schweigsamer, dennoch aber den Ton angebender Oberschicht, und jene, die ihren Mund in Ermangelung des süßen Lebens mit Worten füllten.
(S. 27 f.)

© 2008 Ritter Verlag, Klagenfurt-Graz-Wien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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