Gelesen von Wolfram Berger
2 MP3-CDs
Gesamtspielzeit: 35 Std. 40 Min.
Frankfurt / M.: Verlag Zweitausendeins, 2004
ISBN: 3-86150-652-1
"Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht", lautet die Überschrift des ersten Kapitels des "Mann ohne Eigenschaften". Noch bevor die Leser also mit einem über dem Atlantik befindlichen barometrischen Minimum und einem über Rußland lagernden Maximum in einen der interessantesten und meistdiskutierten Romananfänge der Literaturgeschichte eintauchen, sind sie bereits mit einer Ordnungslosigkeit, Instabilität und Rätselhaftigkeit von Sinnentwürfen konfrontiert. Diese Unbehaustheit durchzieht nicht allein Robert Musils gesamtes Romanfragment, sondern kennzeichnet generell die Werke der literarischen Moderne und macht ihre Gebrochenheit des Schreibens plausibel. Aus der unkonventionellen Form des essayistischen und multiperspektivischen Erzählens, die eine Auflösung des linearen Handlungsverlaufes zur Folge hat, resultieren auch die Probleme, die bei vielen Rezipienten nach mehreren vergeblichen Anläufen meist zum Abbruch der Lektüre führen. Literaturfachleute verklären den "Mann ohne Eigenschaften" deshalb auch gerne zum Inbegriff für schwierige, hochintellektuelle Literatur, durch die sich bis auf ein paar Literaturbesessene und einige ehrgeizige PhilologInnen kaum jemand quält, und zeigen sich überrascht, wenn dieser eitle Erwartungshorizont zuweilen überschritten wird.
Dem Hessischen Rundfunk jedenfalls ist es in Zusammenarbeit mit dem Sender Radio Berlin Brandenburg im Vorjahr gelungen, sein Publikum mit einer Lesung des anspruchsvollen Musilschen Jahrhundertwerkes zu begeistern und in großer Anzahl vor die Radiogeräte zu locken. Und das nicht etwa bloß für ein paar Stunden. Vier Monate und 79 Folgen lang wurde das gesamte erste Buch des Romans, Kapitel für Kapitel, 123 an der Zahl, jeweils werktags in halbstündlichen Häppchen dargeboten. Was zahlreichen Buchausgaben (scheinbar) versagt geblieben war, brachte die Radio-Lesung zuwege: "Der Mann ohne Eigenschaften" wurde - in diesem Falle - gehört. Daß heutzutage Bücher offenkundig mit mehr Begeisterung gehört denn gelesen werden, ist ein Umstand, der niemanden mehr in Erstaunen versetzen sollte, zumal der Boom bei Hörbüchern weiter anhält. Wir haben uns eben schon als Kinder gerne Geschichten erzählen und Bücher vorlesen lassen, daran scheint sich nichts zu ändern.
Nun haben auch all jene, die den Sendetermin dieses "audio-literarischen Großunterfangens" (FAZ) versäumt haben sollten oder die Ausstrahlung nicht empfangen konnten, die Gelegenheit, sich den großen Roman vorlesen zu lassen. Der Frankfurter Verlag Zweitausendeins hat die Musil-Lesung unlängst als ungekürztes Hörbuch auf zwei MP3-CDs herausgegeben.
Bereits nach den ersten Minuten wird ersichtlich, warum das Radio-Projekt beim Publikum derart begeistert aufgenommen wurde. Im Grazer Schauspieler Wolfram Berger scheint nämlich die Idealbesetzung eines Vorlesers des "Mann ohne Eigenschaften" gefunden worden zu sein. Tatsächlich fühlt man sich bei der österreichischen Klangfarbe des Schauspielers in jenes Kakanien versetzt, das nach Musil kaiserlich und königlich war, eine liberale Verfassung hatte, aber klerikal regiert wurde - das zwar klerikal regiert wurde, wo man aber freisinnig lebte, wo alle Bürger vor dem Gesetz gleich waren, aber eben nicht alle Bürger waren: wo also die eigentümliche (alt)österreichische Wesensvielfalt zum Vorschein kommt, deren Komplexität und Faszination wohl erst durch den österreichischen Ton so richtig authentisch wird. Musil hat seinen "Mann ohne Eigenschaften" von vornherein in einer feinen mokanten Sprache geschrieben, und doch erstaunt es, welch gewandte Ironie sich beim Hören des Romans zusätzlich einstellt, die bei stillem und monotonem Lesen nur allzu leicht überflogen wird. Vor allen Dingen aber gelingt es Berger, die oft spröden essayistischen und intellektuell reflektierenden Passagen in Musils Text lebendig und anregend wirken zu lassen. Seiner Vortragskunst ist es zu verdanken, daß man Musils oft nicht einfachen Gedankengängen und komplexen Satzgefügen auch noch nach Stunden geduldig und gefesselt folgt.
Da erfreut die Nachricht, daß die weiteren abgeschlossenen Bücher und Kapitel des Romans bereits in Vorbereitung sind, noch dieses Jahr gesendet werden sollen und wieder parallel bei Zweitausendeins als Hörbuch erscheinen werden.
Dank der (relativ) neuen MP3-Technologie, die vor allem durch Musiktauschbörsen im Internet bekannt geworden ist, paßt die knapp 36-stündige Lesung idealerweise auf bloß zwei CDs. Beim MP3-Format handelt es sich um komprimierte Audiodateien, wo sozusagen all jene Frequenzen weggerechnet sind, die das menschliche Ohr ohnehin nicht zu hören vermag. Dadurch werden die Dateien wesentlich kleiner und es erlaubt, ein Vielfaches dessen, was auf einer herkömmlichen Audio-CD gespeichert werden kann, ohne merklichen Qualitätsverlust zusammenzufassen. So konnten zum einen die 32 herkömmlichen CDs, denen die Musil-Lesung entsprochen hätte, und zum anderen auch das Kürzen der umfangreichen Vorlage umgangen werden. Die CDs samt Booklet, das u. a. einen kurzen Aufsatz des Musil-Experten Karl Corino beinhaltet, gibt es um beachtlich günstige 25,95 Euro.
Auf den ersten Blick scheint das Preis-Leistungsverhältnis also zu stimmen. Allerdings braucht es zum Hörvergnügen MP3-taugliche Geräte der jüngeren Generation, also CD- oder DVD-Player mit MP3-Funktion oder Computer mit passendem Wiedergabeprogramm. Reiz und Sinnhaftigkeit eines Hörbuches liegen aber vor allem darin, sich auch bzw. insbesondere unterwegs davon berieseln lassen zu können und nicht auf sein Arbeits- oder Wohnzimmer begrenzt zu bleiben. Bei vielen portablen CD-Playern mit MP3-Funktion wird das Abspielen jedoch hinfällig, weil die 300 Tracks, in die die 127 Kapitel zusätzlich unterteilt sind, nur mehr wahllos durcheinandergewürfelt bzw. in einer nicht mehr nachvollziehbaren numerischen Anordnung hörbar werden. Bleibt zu hoffen, daß der Makel in naher Zukunft beseitigt werden kann, da dieses innovatorische Verfahren der Datenkomprimierung doch interessante Möglichkeiten für das Genre Hörbuch bereithält.
Denn so bedenkenlos wie Konrad Heidkamp (Die Zeit) würde nicht jeder 32 Regalzentimeter für die konventionellen Audio-CDs freiräumen. Da steht bei mir auf 27 Regalzentimetern die Rowohlt-Taschenbuchausgabe von Musils "Gesammelten Werken" - einschließlich weiterer Prosa, seiner Essays, Reden und Aphorismen -, woraus aber bemerkenswerter Weise auch nichts hervorgehen muß.
Michael Hansel
23. Februar 2005