Vollständige Lesung
Sprecher: Ulrich Tukur
Regie: Bernd Liebner
Produktion: Rowohlt Verlag 1989
5 CDs
Spieldauer: ca. 350 Min.
ISBN 3-89940-194-8
München: der hörverlag, 2005
Die Schule, genauer das Internat, als ein Ort, in dem sich in nuce das festhalten lässt, was die Tendenzen des Zeitgeistes ergibt, begegnet uns auch in der Gegenwartsliteratur. Etwa zuletzt in Kazuo Ishiguros beunruhigendem Roman über die Zukunft unserer Gesundheitsversorgung "Alles, was wir geben mussten" oder 2004 in dem 566-Seiten-Roman "Spieltrieb" der 1974 geborenen Juli Zeh. Ihr Buch nimmt 98 Jahre nach Robert Musil Thematik und oft auch die sprachliche Verfahrensweise von "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" wieder auf. Im Mikrokosmos der Kadettenanstalt "weit ab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem trockenem Ackerland" geschieht, was bei vielen Interpreten als die "Vorgeschichte der Diktaturen des 20. Jahrhunderts" benannt wird. An diesen einschichtigen Ort verschickt, "wohl um die aufwachsende Jugend vor den verderblichen Einflüssen einer Großstadt zu bewahren", wie der Autor ironisch kommentiert, ergibt sich eine Konstellation, in der das Bild eines dunklen Zeitalters deutlich wird. Wie bei Juli Zeh und anders als bei den meisten Schulerzählungen geht es nicht um grausame Lehrer, die Schüler malträtieren, auch nicht vordergründig um die Kritik einer Erziehungsinstitution, sondern um den Abgrund schlechthin, den eine radikale Subjektivität eröffnet. Die letzten Begründungen, sei es für imaginäre Zahlen, Werte oder Konventionen werden dekonstruiert als "Schwachköpfigkeit! Blutarmut!" Dramatischen Ausdruck findet diese Haltung im sadistischen Umgang der Kadetten Beineberg, Reiting und Törleß mit dem Mitschüler Basini, der Beineberg Geld gestohlen hat. Auch Törleß beteiligt sich an dem Komplott gegen Basini, das sich bis zu Versklavungsszenen steigert. "Wir müssen ihn noch weiter demütigen und herunterdrücken. Ich möchte wissen, wie weit das geht." Dieses Spiel mit dem Menschen, der Macht, der Sexualität, dem rational letztlich nicht gänzlich beizukommen ist, fasziniert den großen Klagenfurter Jahrhundertdichter ebenso, wie es uns heutige Hörer gefangen nimmt. Klar wird immer mehr, dass eine Interpretation, die in Musils Text vor allem eine Antizipation der Schrecken des 20. Jahrhunderts erkennt, sich wie Törleß selbst schwer damit tut, über "De natura hominum" nachzudenken und dabei stehen bleibt, sie an anderen Menschen und Zeiten fest zu machen.
Robert Musil hat vor hundert Jahren erstmals in der Versuchsstation der Kadettenanstalt quasi experimentell geschehen lassen, was "Werteverlust und transzendentale Obdachlosigkeit" (Juli Zeh) für Reaktionen auslösen. Damit bleiben "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" zumindest auch für den Beginn des 21. Jahrhunderts eine ergiebige Pflichtlektüre.
Ulrich Tukur liest fast sechs Stunden und hat mich nicht nur nicht genervt, sondern zunehmend fasziniert. Sicher führt er durch manche Musilsche Umständlichkeit und das Törleß'sche Pathos wird nie unerträglich. Großartig macht der Schauspieler durch seine Art des Vortrags etwas von der "Tollheit" spürbar, die Törleß überkommt, als er bemerkt, das er Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinniges empfindet. "Als etwas, das durch die Kraft irgendwelcher Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und als etwas ganz Fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureißen drohte." Die Regie Bernd Liebners bleibt so diskret, dass man sie eigentlich nicht bemerkt. Die Angaben zu den CDs sind rudimentär und rechnen mit Käufern, die über Musil und seinen Romanerstling schon Bescheid wissen.
Helmut Sturm
10. Jänner 2006
Originalbeitrag
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