Immer noch scheint Frankreich der Hort aller musisch beflügelten abendländischen Kulturwerte zu sein. Zwar geht auch Frankreich mit der Zeit, sogar mit offenen Augen, die freilich von sehr bestimmt gestellten Scheuklappen vor allzu breitwinkeliger Sicht beschirmt sind. Die Franzosen, voran wie immer die Französinnen, stellen sich der Gegenwart - und damit der Zukunft - sozusagen in einem trotzigen Kulturstarrsinn (der freilich abzubröckeln beginnt). Immerhin, der Glaube der Franzosen - und der Französinnen - an die eigene Unfehlbarkeit ist so ehern, daß er die Vermutung gar nicht zuläßt, es könnte auch in Frankreich so steil bergab in die Barbarei der gegenwärtigen Weltzeit gehen wie bei uns. Es herrscht also in Frankreich auch nicht der leidige Pessimismus, der dem europäischen Geistesleben die Sauerstoffzufuhr abschnürt. Man atmet freier in Frankreich, wennglich doch ein wenig eingeschüchtert vom generellen Mißmut der Franzosen. Es ist der Mißmut der Alleingelassenen: Niemand ist so gescheit, so raffiniert und - eingebildet wie sie. (S. 12f.)
Es ist eine weibliche Gescheitheit, die auf der Gescheitheit des Weiblichen beruht. Französinnen sind nicht sentimental; Protoyp der Französin ist nicht Madame Bovary, sondern sehr viel eher Georges Sand. Das kitschige Liebespaar des Zeichners Peynet hat ein gänzlich mißverständliches Bild junger französischer Liebender weit über die Grenzen Frankreichs hinausgetragen. Wenn die Franzosen sich darin gespiegelt finden, so geht das möglicherweise auf den Aphorismus de La Rochefoucaults zurück: "Sage mir deine Ideale, und ich werde dir sagen, was dir fehlt." Die süßinnige Adolenszentenliebe unter Glockenblumen und Einverständnis zwitschernden Singvögeln ist so wenig französisch wie Werthers Leiden, und man tut gut daran, sich das Mißgeschick des Abélard vor Augen zu halten; dessen allzu innige Liebe zu Héloise von deren Anverwandten auf sehr peinliche Weise bestraft wurde: Seine Stimme wurde danach wie die der Singvögel. Übrigens ist Madame Bovary sentimental nicht im Sinn einer Liebenden, sondern einer in die große Welt und große Gefühle verliebten Kleinbürgerin - eine allerdings auch nicht seltene, jedoch nicht phänotypische Erscheinung unter den französischen Frauen. (S. 44f.)
(c) 1997, C. Bertelsmann, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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