Jänner 2007
(Krieg und Welt) - so heißt in Anlehnung an Leo Tolstois Krieg und Frieden das Opus magnum, mit dem der Schriftsteller und Übersetzer Peter Waterhouse seinem Vater, einem Agenten des britischen Geheimdienstes, ein unübersehbares poetisches Denkmal setzt. Die beinahe 700 Seiten umfassende "Vatererzählung" ist im Herbst 2006 im Salzburger Jung und Jung Verlag erschienen und hat die Kritik begeistert.
Beatrice Simonsen hat mit Peter Waterhouse das folgende Gespräch über seine Arbeit geführt:
B. S.: Der Titel des Buches ruft die Assoziation mit Tolstois "Krieg und Frieden" wach, noch dazu wenn man weiß, dass der russische Originaltitel sich auch mit "Krieg und Welt" übersetzen ließe. Wie ist es denn zu diesem Titel gekommen?
P. W.: Ich kann mich nicht recht erinnern, wann Tolstoi aufgetaucht ist - nicht von Anfang an. Mich hat beschäftigt, dass es eine neue Übersetzung der Urfassung (Übersetzung von Dorothea Trottenberg, Eichborn Verlag, 2003) von Tolstois Roman gegeben hat. Dass es neben dieser Urfassung viele andere Fassungen gibt, weiß man als deutscher Leser nicht unbedingt. "Krieg und Frieden" steht wie ein solitärer Block da. Tatsächlich gibt es im Russischen allerlei Ausgaben und Varianten und eben auch diese Urfassung; also die Relativität des Textes hat mich beschäftigt. Und dann mehr noch die Frage, wo denn in diesem langen Roman Frieden vorkommt. Im Nachwort des Übersetzers der Urfassung wird davon berichtet, dass das russische Wort "mir" auch eine andere Deutung zulässt und nicht notwendigerweise "Frieden" heißt, sondern ebenso etwas heißen könnte wie "Gesellschaft" oder "Gemeinschaft" vielleicht sogar "alle" und in einem ganz weiten Sinn auch "Welt". Der Roman von Tolstoi könnte vielleicht auch heißen "Krieg und Gesellschaft" aber nicht wirklich "Krieg und Frieden".
Aber darüber hinaus hat mich beschäftigt - und das erkennt man vielleicht aus den Zitaten, die aus Tolstois Roman ausgewählt sind - wie viele Personen im Roman Französisch sprechen, also die Sprache des Aggressors, und wie oft in der Übersetzung das Französische gleich mitübersetzt wird. Da gibt es ein paar sehr schöne feine Stellen in dieser deutschen Übersetzung der Urfassung, wo auf die französische Aussprache eines Protagonisten hingewiesen wird und welche französischen Wörter er verwendet. Aber tatsächlich spricht er in der deutschen Übersetzung Deutsch und im russischen Original Französisch an dieser Stelle. Also der große und durch die deutsche Übersetzung teilweise unbemerkbare Einfluss des Französischen, das hat mich beschäftigt, auch deswegen weil sowohl Erzähler als auch Hauptperson in meinem Buch Übersetzer sind. (...)
Und welche Bedeutung hat nun die Klammer, in die der Titel gesetzt ist? Bedeutet es, dass Krieg der Welt immanent ist?
Das "und" bei "(Krieg und Welt)" scheint die Möglichkeit zu enthalten, dass die beiden Begriffe fast eine Identität haben, fast gleich sind. Das will ich aber nicht festlegen. Was die Klammer tut, mag ich auch ungern festlegen. Da hat es schon verschiedene Beschreibungsversuche gegeben, die ich selbst bisher nicht gesehen hätte. Der Möglichkeiten sind viele, was diese Klammer unternimmt. Zum Teil unternimmt die Klammer für mich eine Entdramatisierung. Die Überschrift ohne Klammer wäre ja nahe einer Schlagzeile und wie man weiß, gibt es keine Schlagzeilen in Klammern. Ich weiß nicht, welche Möglichkeiten dieser Titel für verschiedene Leser enthält, das kann ich nicht eingrenzen, aber nützlich für mich war während des Arbeitens, dass die Klammer den Titel auch wieder wegnimmt. Er steht für mich gar nicht so stabil und sicher da. Das ist für mich stärker als die Frage, ob in diesem Titel Krieg und Welt synonym sind oder nicht, stärker ist für mich das Moment des Wegnehmens. Der Titel nimmt sich fast selber weg und ich glaube, es gibt im ganzen Buch fast durchgehend bis zum Schluss etwas, das ganz anders ist als die Vermehrung, obgleich dieses Buch so umfangreich ist und nach Viel aussieht, hat es eine Bewegung des Weniger, des Wegnehmens und vielleicht ist das im Titel schon angelegt.
Diese Vorsicht des Begrifflichen führt in den Erzählungen - an anderer Stelle hast du gesagt, dass es sich in dem Buch um Erzählungen handelt, die seit 1997 entstanden und hier chronologisch angeordnet sind - zu vielen Fragestellungen. Die vielen Fragen des Sohnes an den Vater lösen sich schließlich von seiner Person und führen zu ganz allgemeinen Überlegungen. Vielleicht fällt dir ein Beispiel dazu ein?
Ich denke zum Beispiel an eine Reihe von Befragungen, die beginnen bei diesen Sprachlehrbüchern, die der Vater in seiner Bibliothek stehen lässt, und damit dem Erben überlässt. In dieser einen Ezählung wird viel danach gefragt, ob die kleinen Sprachlehrbücher des Italienischen und Französischen und Russischen, ob die mit einer erkennbaren Absicht dem Sohn geschenkt wurden, ob es sich überhaupt um Geschenke handelt oder ob es sich um ein zufälliges Geschenk handelt oder ob es sich um ein zufälliges Ereignis handelt oder ob der Vater ganz vergessen hat auf diese Bücher oder ob er sie vielleicht, wenn er sie nicht vergessen hätte, weggeworfen hätte, (...) Und gerade bei dieser Beschäftigung mit der Frage: sind die Bücher absichtlich gegeben worden, übergeben worden, überlassen worden, tradiert worden, geschenkt worden oder handelt es sich um Zufall, um Absichtslosigkeit, Vergesslichkeit? taucht die Erzählung in einen Bereich ein, in dem diese kategorischen Unterscheidungen nicht mehr gelten. Dieses mühselige Entweder/Oder: Wurde das aus diesem Grunde gegeben oder aus diesem oder aus diesem oder war es Vergesslichkeit? weicht auf. (...)
Ich glaube, dass dieses Interesse in vielen Erzählungen erkennbar ist: gegensätzliche Bereiche so anzusprechen, dass sie nicht gegensätzlich sind, dass sie nicht entweder das oder das andere sind. Dieser geöffnete Bereich wird dem Leben des Vaters entgegengehalten, der offensichtlich durch die politischen und historischen Umstände seiner Lebenszeit keine Möglichkeit hatte, diesen Raum oder diese weniger klassifizierbare Ordnung zu betreten, also auch diesen träumerischen Bereich. Sein Leben hat sich bewegt in den Zonen des Kalten Krieges, der eine riesengroße Opposition eröffnet hat, die eigentlich weltweit galt, die hat man in Malaysia genauso gespürt wie in Nordamerika oder Europa. Überall war die Welt strengstens klassifiziert und auch von einem sogenannten Eisernen Vorhang auf das allerschärfste getrennt. Tatsächlich war der Vorhang ja gar nicht eisern und die Geschichte der Durchlässigkeit dieser Grenzen ist noch gar nicht angegangen worden. (...) Diesen Ausdruck hat angeblich Churchill verwendet und zwar (...) so, dass Wien östlich des Eisernen Vorhangs lag, später erst westlich. Aber ganz abgesehen davon, dass Churchill da eine undurchdringliche Linie erkannt hat, die sich durch Europa gezogen hat, sollte man trotzdem nicht vergessen, dass das Wort Eiserner Vorhang gar nicht seine Erfindung war. Die Übertragung aus dem Theaterbereich auf die politischen Verhältnisse war eine propagandistische Erfindung von Goebbels. Ob Churchill das wusste, weiß ich nicht.
In diesen eisern getrennten Systemen hat sich das Leben des Vaters entwickelt und der Erzähler des Buches ist immer wieder daran interessiert, eine andere Ordnung zu erkennen, die dieser Vater dann offenbar nicht erreichen konnte. Die Beschäftigung mit der Grenzöffnung erweitert sich im Laufe des Buches bis dahin, dass die Grenze zwischen Leben und Sterben weniger strikt gezogen wird. Aber es geht nicht nur um diese dramatische Grenze, sondern um viele viele kleine Momente, wo eine Grenze nicht nur eine Grenze ist. (...)
Würdest du sagen, dass deine schriftstellerische und übersetzerische Tätigkeit von der Beschäftigung des Vaters mit Sprachen angeregt wurde? Manchmal meint man, der Vater wäre selber gerne Schriftsteller gewesen - gab es bei ihm da nicht auch so etwas wie Liebe zu den Sprachen?
Er wird an einer Stelle unmittelbar gefragt, ob er Tagebuch geführt hat und er antwortet darauf sehr schroff, er sagt: so etwas habe ich nicht geschrieben und so etwas wollte ich auch nie schreiben, so etwas würden nur die Schriftsteller schreiben - und diese Aussage "nur die Schriftsteller" klingt schroff und ablehnend. Wenn dennoch der Eindruck entsteht, dieser Mensch hätte schreiben sollen oder auch wollen, mag das richtig sein. ( ...)
Die Erzählungen verlassen sich zumeist auf die kindliche Perspektive oder wählen diese Perspektive immer wieder aus, um der Rätselhaftigkeit der Person des Vaters gerecht zu bleiben. So ein Begriff wie Liebe zu den Sprachen - das mag ein richtiger Eindruck sein: aber das Buch bleibt bei der kindlichen Perspektive und die würde eine solche Beschreibung nicht gestatten. (...) Es gibt gute Gründe zu sagen, dass es da eine Liebe gegeben hat, aber ebenso viele Gründe gibt es, dass diese Liebe sich nicht entwickelt hat, sondern dass diese verhindert wurde und nicht zum Ausdruck kommen konnte. Für mich als Autor bleibt die Person des Vaters durch und durch rätselhaft bis heute, so wie dem Kind damals. (...)
Dein Interesse am Übersetzen taucht an vielen Stellen im Buch auf. Ich würde dich gerne fragen, ob du selbst als Übersetzer eher einen sinnlichen oder einen intellektuellen Zugang zu den Texten hast, die du übersetzt?
Die Frage habe ich mir so noch gar nicht gestellt, aber vielleicht bietet sie geradezu die Antwort, die ich noch gar nicht gesehen habe. So gefragt würde ich meinen, dass die Auswahl eine sinnliche ist, keine intellektuelle. Bei der Wahl von Andrea Zanzotto war es anfangs mit Sicherheit keine intellektuelle Auswahl, da ich die italienischen Gedichte gar nicht verstanden habe und mich diesen Gedichten überhaupt erst annähern kann durch Übersetzung. (...)
Bei Michael Hamburger würde ich dasselbe sagen, obgleich ich in diesem Fall die englischen Gedichte lesen und mir dann sagen kann, dass sich das Interesse aus dem Lesen und aus dem Wissen entwickelt hat und ich dann beginne zu übersetzen. (...) Ich glaube, die Sinnlichkeit seiner Gedichte ist erst im Laufe des langen Übersetzens ausführlicher von mir untersucht worden, und hat sich dann langsam erwiesen als etwas geradezu Winziges - in Form kleinster Pflanzen, Blumen, Blüten, kleiner Vögel und kleiner Dinge - vor allem kleiner Lebewesen, die sich unter schwierigen Bedingungen äußern.
Insofern - jetzt sind wir wieder bei der biographischen Frage meines Vaters - gibt es einen unmittelbaren Konnex zwischen meinen Übersetzungen und dem Nachfragen nach der Biographie meines Vaters, weil sich diese Biographie am besten dort äußert, wo sie unter schwierigen Bedingungen sich meldet und zwar mit sehr kleinen Signalen, so wie die Blumen und Pflanzen bei Michael Hamburger sich unter negativen Bedingungen melden und sich in einer Art und Weise zeigen, dass sie sich fast nicht zeigen. Zum Beispiel gibt es eine Art von Sträuchern und Blumen, die ihre Blüten öffnen zu einer Zeit im Jahr, wo sie noch von altem Laub verklebt sind. Der Wintereisenhut erblüht in England im späten Februar oder hier in Österreich vielleicht Ende März oder im April, aber so dass er oft noch von Schnee zugedeckt ist oder unter der Laubschicht des Vorjahres liegt und fast nicht zu sehen ist oder ganz zugehüllt ist und sich unter diesen schwierigen Bedingungen zu Wort meldet. Das ist mir im Laufe des Übersetzens bei Michael Hamburger klarer geworden. Das war es wohl, was mich von Anfang an verlockt hat: Sinnlichkeit unter schwierigen, versteckten Bedingungen, eine Kräftigkeit und Heftigkeit im Kleinen, zuunterst auf dem unmittelbaren Erdboden. Winterjasmin blüht im Dezember, Jänner, wo es mit Sicherheit keine Bienen gibt, die daraus Honig holen, und er blüht unter schwierigsten Bedingungen und zwar unter so schwierigen, dass er zu jener Zeit nicht einmal sein Laub entwickeln kann, sondern nur die Blüten, und dann blüht er hellviolett oder hellrosa und man weiß nicht warum. Also wenn man ihn befragen würde, den Winterjasmin, warum er das tut, dann würde er schroff antworten, ein bißchen ähnlich wie der Vater in diesen biographischen Studien. (...)
Eine längere Fassung dieses Gesprächs erscheint in der Literaturzeitschrift kolik (Heft Nr. 36, 2007).