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Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg.

Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Berlin: Suhrkamp 2014.
459 Seiten; gebunden; Euro 27,70.
ISBN: 978-3-518-42432-2.

Julius Bab, ein ausgewiesener Kenner der deutschen Kriegslyrik 1914-1918, hat seinerzeit geschätzt, in Deutschland seien im ersten Monat des Ersten Weltkriegs an die fünfzigtausend Kriegsgedichte pro Tag geschrieben worden; se non è vero, è ben trovato. Eine riesige Lawine von Gedichten, soviel ist sicher, hat damals nicht nur Deutschland (und die Donaumonarchie), sondern ganz Europa überschwemmt, die allermeisten davon, ästhetisch betrachtet, unter jeder Kanone; aber auch im Raum der Avantgarde finden sich zahllose einschlägige Zeugnisse der Kriegsbegeisterung.

Die wichtigsten dieser lyrischen Dokumente sind längst bekannt. Seit langem schon findet auch eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Dokumenten statt, in der Regel allerdings immer nur im nationalen Paradigma. – An diesem Punkt setzt das Buch von Geert Buelens an. Es präsentiert einen Überblick über die Lyrik der Zeit des so genannten Großen Kriegs in ganz Europa, konzentriert sich dabei vor allem auf die Gedichte der Prominenten, wirft jedoch auch immer wieder einen Blick auf Texte, deren Verfasser/innen sich stolz als „Nationaldichter“ empfunden und demnach in den Vordergrund (d. h. nicht unbedingt zugleich an die Front) gedrängt haben; „man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat“.

Neben berühmten Autorinnen und Autoren (wie Anna Achmatowa, Gabriele D’Annunzio, Guillaume Apollinaire, Wladimir Majakowski, Filippo Tommaso Marinetti, Fernando Pessoa und Georg Trakl) werden in dieser Monographie auch viele andere, in den großen Literaturregionen gewöhnlich weniger bekannte Dichter/innen mitberücksichtigt. Buelens stellt dabei nicht nur ihre Texte vor, er erzählt auch gerne ihre (Lebens-)Geschichten; z. B. die Geschichte des lettischen Dichterpaars Aspazija und Rainis, Geschichten über Endre Ady, Miloš Crnjanski, Ivo Andri?, George Bacovia und Tristan Tzara und viele andere, weithin auch völlig Unbekannte, die oft und oft im Krieg gefallen sind. Er erzählt von Kriegsreportern, die sich im Sommer 1914 der weit verbreiteten Kriegshysterie angeschlossen und nach der ersten Schlacht an der Marne von der Märtyrer-Rhetorik distanziert haben, und auch von zweifelhaften, peinlichen Bravourstücken, wie D’Annunzios Heldentaten in Fiume. Immer wieder wechselt er dabei die Perspektive, berichtet, wie man in der Schweiz, in Belgien, in England und anderswo beobachtet und bewertet, was in Wien, in St. Petersburg, in Versailles sich zuträgt, und welche Rollen namentlich die Dichter in den Propagandadiensten, in den Diskursen über die Februar- und die Oktober-Revolution wie in den Gesprächen über den Frieden übernehmen.

Die zitierten Gedichte werden kaum einmal eingehend besprochen, eher bloß paraphrasiert; aber wo komplexe Strukturen sich gegen eindeutige Zuschreibungen sträuben, hält sich Buelens souverän zurück, nur unmissverständlich tyrtäische Poesie wird von ihm (nicht selten lakonisch) abgekanzelt. Was das Buch jedoch besonders auszeichnet: Buelens scheut sich nie, auch Werke mit Argusaugen zu betrachten, die es geschafft haben, in der ersten Reihe der jeweiligen Nationalkultur einen Platz zu finden. Der Sieger nimmt bekanntlich alles, Buelens liest gerne aus der Perspektive der Verlierer; z. B. (mit Anatol Stern) aus der Sicht der Polen:

Schmerz blieb Schmerz, eine Amputation blieb eine Amputation, und auch wenn man es im Laden in der eigenen Sprache verlangen konnte, war trockenes Brot nichts weiter als trockenes Brot. Von den seelischen Nöten ganz zu schweigen:

aber wer
aber wer

kämpft
um das befreite menschliche herz
das kostbarer ist als alle Schlesien der welt
das kostbarer ist als jede unabhängigkeit?
(S. 356)

Indem Buelens, als wäre dies das Selbstverständlichste von der Welt, sich auch großen Themenkomplexen zuwendet, die gewöhnlich unverbunden nebeneinander bleiben, in diesem Buch aber zusammengeknüpft werden, wie Pazifismus - Antisemitismus - Avantgarde, gelingt es ihm, seine zentrale Intention durchzusetzen: nämlich „die Wahrnehmung zu schärfen für die rhetorischen Mittel, mit denen Bevölkerungsgruppen einander beschreiben und stigmatisieren und gegeneinander agitieren.“ (S. 362) In den unzähligen kleinen und scheinbar ganz privaten Geschichten, die er erzählt, wird die Geschichte der europäischen Dichtung zwischen 1900 und 1925 so ausgestellt, dass sie mit neuen Augen gesehen werden kann.

Johann Holzner
26. Juni 2014

 

 

 

 

 

 

 

 


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