Leseprobe:
Ich komme mir hier oft vor wie in einem namenlosen Ort. Einem, aus dem man nicht hinauskommen kann. Farblos ist er sowieso. Man lebt wie in einem mehrstöckigen Haus mit Wänden aus Bildern. Jedes ist eine Lüge. Namenlos kommt der Ort einem vor, weil Benennung Nähe aufbaut. Zu manchem, was in meinem Leben ist oder war, möchte ich mehr Nähe. Zu diesem Ort im Argen-Tal aber nicht. Es reicht, dass ich hier wohnen muss. Weil die Mieten noch niedrig sind.
Seit dem Eisblock ist es bei uns noch feuchter geworden. Es ist jetzt auch kälter als am Morgen, die regennasse Straße nun gefroren. Einer schlittert in den anderen. Ein Mensch. Ein Wagen. Ein Verdacht. Es ist noch dunkler. Kälter ist es nicht nur draußen vor den Türen, sondern auch drinnen in den Leuten. Ich würde sie am liebsten chirurgisch öffnen, ihre Brustkörbe aufmachen und mit dem Fön Wärme hineinblasen. Doch die würde nicht bleiben. So ist ein Brustkorb nicht geflochten.
Ein Eisblock liegt im Argen. Die Realität hat sich verzogen, zugunsten von Schlechtem. Nicht nur bei mir, auch bei den anderen: Foltersanft schleicht sich die Einfühlungsangst ein. Empathie kommt einfach nicht mehr durch den Nebel. Alles, was man einander noch schenkt, ist eine gewisse Holzhammerlieblichkeit, mit der man dem Gegenüber mehr oder weniger subtil Unrecht tut. Würden die Argen sich so ausdrücken, könnten sie sagen: Innere Kinder weinen nicht. Deswegen trampeln wir auf den Gefühlen anderer herum. Aber ich weiß, dass es anders ist: Tiere und innere Kinder weinen nicht nach außen hin.
(S. 36-37)
© Verlag Johannes Heyn, 2017.