Textauszüge, Stilblüten, interessantes Detail am Rande:
1
Als es zum letzten Mal geschah, bei Nachtanbruch, waren sie beide mit ihrer Haltung zu Ende und der Ausbruch war unvermeidlich geworden; vor dem Auditorium des überfüllten Straßenbahnwagens, der auf seinen Kondukteur warten mußte. Karl bekam zwei Ohrfeigen ab, dafür schrie er es in die Welt, daß er hier nicht Koffertragen und den Anschein eines Strolches auf sich nehmen würde, wenn sich nicht irgendwo in einer Waschküche seine Mutter zu Tode schinden müßte. Nachts dann wurden die Parteien des Hauses, in dem Karls Eltern wohnten, aus dem Schlaf gestört. Der Schaffner Josef Lakner hatte, spät und nüchtern vom Dienst heimkommend, seinen Sohn aus dem Bett gerissen, um ihn, wie er schrie, zu erschlagen. Dieser Auftritt, in dem Karl mit seiner Mutter in Front gegen den Vater stand, in dem sein Vater, nachdem er das kleine Weib geschlagen hatte, vor Gekränktheit weinte und das kleine Weib sich aus dem Fenster werfen wollte – dieser Auftritt verlief, trotz später Schlafenszeit, in aller Öffentlichkeit. Zwei Stunden drang das Geschrei durchs Haus und die Hängelampe in der Wohnung unterhalb der Lakner pendelte wie auf einem Schiff. (S. 55)
2
Nicht seinem Ermessen sind die riesigen Plakate und haushohen Leuchtschriften unterstellt, die ihm dartun, was er an seiner Erziehung, an seinen Launen und Wohlmeinungen zu korrigieren hat: Nur echte Seide ist Seide. Für jeden Anlaß den richtigen Schuh. Schokolade ist nicht nur ein Genuß, sondern hochwertige Nahrung. Trage Schmuck und du gewinnst. Einen Schirm benützen heißt Kleidung und Gesundheit schützen. Trinke mehr Milch. Trinke deutschen Sekt.
Aber zum Wanzenkopf der Weltgeschichte wird die Großstadt, wo sie sich gewissermaßen als Scheidemünze gibt. Es werden Karl Lakner ununterbrochen Drucksachen in die Hand gedrückt. Auch Goethe – hätte die Krawatte Pearl getragen. Ein Märchen – das neue Fleckputzmittel Flox. Der Friede im Haushalt – die Faschiermaschine Tata. Die Tragik des Lebens vorbei – durch die Haarpomade Musa. Einen Wert gewinnen diese Angebinde für Karl Lakner erst, als eines von ihnen aus einem Block von fünf Streichhölzern besteht. Er geht damit in den abgewinkelten Teil einer Schaufensterpassage, wo es Spiegel gibt, und brennt sich, von Damenhüten auf Nickelständern umgeben, die Bartstoppeln am Kinn ab. Er könnte einen Prospekt erhalten, mit 60 Blättern und zwei Dutzend Kupertiefdruckbildern, ein ganzes Buch, das für einen Buschmann ein Zauberwerk wäre, aber er hat nicht die Gelegenheit, seine Notdurft zu verrichten, weil das auf der niedersten Klasse der öffentlichen Bedürfnisanstalten 17 Groschen Kostet." (S. 234f)
Stilblüten:
"Nun verblaßten diese Hoffärtigkeiten, um den tatsächlichen Möglichkeiten Platz zu machen." (S. 53)
"Augenscheinlich hatte sein junges Herz die Fähigkeit, auf dem Scheitel der Not in Abgeklärtheit umzuschlagen. Er spürte dann plötzlich die große Welt, als stünde er im Nachtwind draußen, und in diesen Sekunden tröstete ihn die Größe der Welt. Der Welt, die sich soeben (1906) die Höhensonne und die Fernphotographie erfand. Und in der Rußland, nach seiner Revolution, 45.000 Menschen nach Sibirien schickte." (S. 58)
Interessantes Detail am Rande:
Die Auflistung von Brunngrabers Einkommen im Jahre 1932: "Am 24. Dezember erhielt ich den Verlagsvorschuß von 250 Schilling, womit mein Einkommen im Dezember auf 997 Schilling stieg. Die Einkommen der übrigen Monate waren: Jänner 352 S, Februar 435, März 547, April 444, Mai 328, Juni 302, Juli 367, August 487, September 498, Oktober 459, Novemb. 567 S." (S. 265)
© 2010 Milena Verlag, Wien.