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„Lily ist ein kluges Köpfchen“, redeten meine Lehrerinnen meiner Mutter zu. „Sie sollten sie an der Universität studieren lassen. Sie hat den nötigen Verstand für ein Studium.“ Damals war es nicht leicht, ein Mädchen eine solche Karriere einschlagen zu lassen. Als diese Zukunftsperspektive für mich überlegt wurde, studierten sehr wenige Frauen an der Universität Wien. Nicht alle Studien standen den Frauen offen. Frauen konnten Medizin, Naturwissenschaften und Sprachen studieren, aber aus irgendeinem Grund konnten sie nicht Rechtsanwältinnen werden. Die „Studentin“ gab ein dankbares Motiv für Karikaturisten ab, die sie folgendermaßen porträtierten: Zigaretten rauchend, in Herrenanzügen und Hemden mit aufgestelltem Kragen. Solche Frauen wurden als „emanzipiert“ bezeichnete, wodurch sie sich vom Durchschnitt abhoben und definitiv schlechtere Karten am Heiratsmarkt hatten. Um an der Universität aufgenommen zu werden, musste man den Abschluss eines „Gymnasiums“ vorweisen. Kein anderes Mädchen in unserer Familie hatte jemals so eine Schule besucht. Meine Mutter sah sich nach jemandem um, der sie beraten könnte. In unserer Nachbarschaft gab es die Familie Meitner, in der mehrere Töchter sehr gebildet waren. Meine Mutter konsultierte sie mehrmals in dieser Angelegenheit. Für die Welt ist es von geringer Bedeutung, dass ich schließlich an der Universität studierte, aber für Sie und mich ist es von größter Bedeutung, dass die Meitner-Mädchen es taten: Denn eine von ihnen ist Professor Lise Meitner, die die theoretischen Grundlagen für die Atombombe ausarbeitete.
© 2011 Milena Verlag, Wien
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