Urs Widmer: Steirisches Tagebuch (Auszüge)
27. Oktober
Ich bin ein Schweizer, aus Basel. Ich hüte mich, jemals ins Ausland zu reisen. Ich weiß, dass man dort die Cholera und weiß Gott was bekommt. Jetzt aber hat man mich aufgefordert, ein steirisches Tagebuch zu schreiben. Tja, ich kann ja nicht über die Steiermark schreiben, ohne sie zu kennen.
28. Oktober
Ich bin gut in Graz angekommen. Ich fliege zwar lieber mit der Swissair, aber die Musik, die aus dem Bordlautsprecher der AUA-Machine kam, gefiel mir gut. Nur beim Aussteigen spielten sie einen Wiener Walzer, obwohl Wien nicht in der Steiermark liegt. Der Pilot verfehlte in Graz zweimal die Piste. Ich fühle mich hier schon wie zu Hause, besonders auf dem Flugplatz, wo man Schweizer Schokolade kaufen kann.
29. Oktober
Die Schwierigkeiten fangen an. Ich habe eine "Kronen Zeitung" gekauft. Ich finde ein Schweizer Sportresultat nicht! Wie soll ich jetzt erfahren, ob der FC Basel gewonnen hat! [...]
31. Oktober
Heute habe ich einen Brief von einer Züricher Zeitung bekommen mit der Anfrage, ob ich für sie auch ein Tagebuch schreibe. Bedingung ist nur, dass die Stadt Zürich darin vorkommt. Dann überweisen sie mir 150 Franken. Ich freue mich über den Brief. Ich gehe in ein Gasthaus und mache mir die ersten Gedanken über Zürich. Das steirische Tagebuch, das muss ich sagen, schreibt sich ganz von selbst.
7. November
Ich habe die "Kronen Zeitung" abonniert und vermisse die übrige Welt überhaupt nicht mehr. [...]
9. November 1974
Ich bin wie vom Blitz angerührt. Die Züricher Zeitung schickte mir mein Tagebuch zurück! Nun ja, denke ich schließlich, es sind eben Schweizer. Dumm ist nur, dass sie auch das Geld nicht schicken. Ich muss jetzt sofort mein steirisches Tagebuch fertig schreiben. Leider kann ich mich an die Tipps von meinen Freunden nicht mehr erinnern, oder nur an solche, die ich besser nicht hinschreibe, wenn ich nicht will, dass auch diese Arbeit wieder zurückkommt.
(S. 190 ff)
Urs Widmer: Fremder Stern
In einem früheren Tagebuch für die "Kronen Zeitung" habe ich behauptet, in Graz zu sein, dabei saß ich in Frankfurt, mitten im Industriegestank. Jetzt aber bin ich wirklich in Graz ...
2. März 1975
© 2002, Residenz Verlag, Salzburg, Wien, Frankfurt.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.