Ich wurde logischerweise nicht als Vollwaise geboren. Meine Eltern starben bei einem Autounfall, als ich knapp drei Jahre alt war. Ich blieb bei meinen Großeltern, bei denen ich untergebracht worden war, damit meine Eltern zur Hochzeit des besten Freundes meines Vaters fahren konnten. Auf dem Rückweg von dieser Hochzeit, bei der mein Vater Trauzeuge war, raste ein Betrunkener, der überlebte, frontal in das Auto meiner Eltern. Ein Jahr nach meinen Eltern starb mein Großvater an einem Schlaganfall, und damit wurde ich, jedenfalls meinem Empfinden nach, zur Vollwaise einer alten Witwe.
Dieser Zustand war eigentlich nur aus der Sicht der Erwachsenen bedauernswert. Für mich war er ziemlich abwechslungsreich, denn ich dachte mir laufend neue Eltern aus, die immer taten und sagten, was mir gerade paßte, und mich vor allem immer verstanden. Robert, der, wenn schon nicht mein Ehemann, wenigstens gern mein Lebensgefährte wäre, sieht darin das einzige Hindernis für unsere Heirat. Er sagt, wir seien füreinander geschaffen.
"Füreinander geschaffen."
Wortwörtlich.
Ganz unrecht hat er damit nicht. Falls ich für jemanden geschaffen bin, dann sicher für Robert. Aber wie kann ich sicher sein, daß ich überhaupt für jemanden geschaffen bin?
"Zerbrich dir doch darüber nicht den Kopf", sagt Robert, wenn er sich nicht gerade darüber aufregt, daß "mein Freund" ein Ausdruck sei, der unserer Beziehung nicht gerecht werde.
"Beziehung", sage ich dann und verdrehe die Augen.
"Da siehst du's", sagt er, "du findest Ehe auch besser."
"Das Wort", sage ich. "Aber Vollwaise und Ehe ..." (S. 9f.)
© 2000, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.