10
Der dicke Fischgrätmantel hing nach wie vor in der Ecke; darunter lag Maximilians praktischer Reisekoffer.
Wahrscheindlich sitzt er betrunken im Speisewagen und streitet mit dem Kellner wegen der Rechnung. Das Genick soll er sich brechen, das Genick! dachte Leopoldine Brezovsky und schlüpfte in den Mantel. Sie drückte ihre Handtasche fest an den Busen, griff nach dem Stock; mühsam erhob sie sich, wackelte auf den Gang hinaus und den Gang entlang Richtung Ausstieg. Ein freundlicher junger Mann, dem Aussehen nach ein Student, half ihr über die Stufen auf den Perron hinunter.
Als sie vom Bahnsteig in die Wartehalle trat, entdeckte sie die beiden. Sie hätte es wissen müssen, zumindest ahnen hätte sie es können: Schräg vor sich an der Rolltreppe sah sie Gunthilde und Edmund Kirchberger im Zentrum einer Menschenmenge. Daneben standen zwei Polizisten.
Gunthilde gestikulierte: Sie schien aufs äußerste erregt.
Edmund sah abwechselnd zu Boden und hoch in den Himmel der Wartehalle. Er hatte beide Fäuste tief in den Manteltaschen vergraben - so tief, daß man glauben konnte, er wollte selbst hineinkriechen und für immer verschwinden.
Die Szene wirkte grotesk. Es fiel ihr schwer, einen Anfall von Heiterkeit zu unterdrücken - bis sie die Krankentrage sah und den darauf festgeschnallten Mann. Der Kreis um die Kirchbergers öffnete sich: Der festgeschnallte Mann mit dem dicken, sich von Weiß in Rot verfärbenden Verband am Kopf wurde von zwei Sanitätern fortgetragen.
22
Emerich Poperl klappte den Rollstuhl zusammen und verstaute ihn im Fond der schwarzen Limousine.
"Wir haben es nicht eilig", sagte Theodor Kirchberger. "Das Begräbnis ist auf vierzehn Uhr vierzig angestetzt."
Der Krankenpfleger nickte und steuerte den Wagen die Pamperstorffergasse hinauf und die Margaretenstraße hinunter, die Arndtstraße entlang bis zur Ecke Längenfeldgassse. Dort bog er ab, und sie kamen zum Steinbauerpark.
"Halten Sie an", sagte Theodor.
Emerich Poperl gehorchte.
Er parkte den schwarzen Mercedes präzis in eine Lücke. Klappte den Rollstuhl auseinander und lupfte den alten Mann hinein.
Danach schob er ihn in den Park.
Dort trafen sie auf Gunthilde und Edmund Kirchberger.
Theodor erspähte sie von weitem. Er winkte mit beiden Armen. "Schieben Sie mich dorthin! Zu diesen zwei Leuten auf der Parkbank!"
Da hörten sie alle ein lautes Klirren und Geschrei. Theodor bat Emerich Poperl, ihn an den Ort des Geschehens zu bringen.
"Seht nach, was da los ist!" rief er Gunthilde und Edmund zu. "Wir kommen nach!"
© 1999, Edition Selene, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.