Gelesen von der Autorin. Originalausgabe
Aufgenommen im ORF-Funkhaus Wien, Juli 2001
ISBN 3-902113-83-9
Spielzeit: 25 Min.
Edition Korrespondenzen und ORF 2001
Fünfzig Jahre nach der Niederschrift: die 80-jährige Autorin Ilse Aichinger liest die Prosagedichte "Kurzschlüsse. Wien", entstanden in ihrer Jugendzeit, deren beste Jahre sie als Halbjüdin in ständiger Angst und Bedrohung ohne Möglichkeit zur Flucht im reichsdeutschen Wien verbrachte. Die "Kurzschlüsse" wie "Die größere Hoffnung" - letztere markiert in der österreichischen Literaturgeschichte der Gegenwart deren Beginn - markieren einen Höhepunkt der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Wie in anderen Werken der Nachkriegszeit wie etwa Gerhard Fritschs "Moos auf den Steinen" oder Hans Leberts "Wolfshaut" findet sich auch in Aichingers Texten eine unklar-bedrohliche Atmosphäre (dort, wo sich das Hintergründige offen zeigt, enthüllt sich das Böse). Entwickelt sich der Hintergrund bei jenen aber als das Hinterhältig-Böse der Anderen, ist es bei Aichinger der Schmerz der eignen maßlosen Kränkung und Beleidigung, der nicht auf den ersten Blick durchdringt, sondern wie eine Grundfarbe unter lasierendem Farbauftrag ihre Bilder unterlegt. Zur Personifizierung der Schuldigen kommt es nicht - ungenannt bleiben sie von einer Präsenz, die ihre Benennung im Text untersagt.
Der Prosagedichtzyklus führt durch Gassen und Straßen bürgerlicher Wiener Bezirke, beginnend mit "Stadtmitte". Sie bilden einen Stadtführer "der anderen Art". Orte drängen Erinnerung auf: vordergründig erscheinen sie leer, geleert, dahinter liegt das Verschwundene, das Verborgene, Menschen, Wohnungen, Magazine, Ereignisse. Was hinaus führt aus diesem Ort, hat einmal Hoffnung gegeben: der große Fluss, die Wege und Straßen. Dann hat einer am Fluss die "Arche Noah" gesehen. In dem Ort Wien bleiben zu müssen, wird Realität, damit trudelt die Hoffnung ins Irrationale. "Der Himmel wacht über allen, die zum Opfer bestimmt sind." Ans Entkommen wird schließlich nicht mehr gedacht, die Erinnerung daran wird an die Orte übergeben.
Die "Landstraße" verbindet sich mit dem Bild eines alten Kuverts. (Ein Brief mit schrecklicher Botschaft könnte darin gewesen sein.) Nur indirekt kann sie sich dem Ort annähern, er wird beschrieben, wie man einem Fremden den Weg erklärt. Der Name der Gasse im dritten Bezirk wird unaussprechlich, wo die Juden auf der Rampe standen und nach Polen gebracht wurden. "Jede Nacht steigt neue Finsternis herauf." Das bloße Vorhandensein der Lokalitäten gibt Erinnerung an eine geschwundene Möglichkeit; bald wird diese nicht einmal mehr gedacht, es bleiben die Elemente der städtischen Landschaft als Rest. "Ich sehe ... den leeren Weg ... den Fluss sehe ich nicht." Nur im Negativen ist das Geschwundene noch vorstellbar.
Als großer Vorzug für das Verständnis der Texte erweist sich die Lesung durch die Autorin selbst. Keine SchauspielerIn könnte so intonieren: die flache Atmung, die starke Emotionen niederzuzwingen sucht, die Kraft gleichzeitig, mit der Aichinger den schmerzvollen Aufschrei oder entlastendes Weinen in einen gleichmäßigen Sprechfluss drückt. Lustvolles Hören schenkt diese Stimme nicht, dafür eine emotionale Tiefe, die das unendliche Leid der Menschenvernichtung in dieser Zeit ahnen lässt.
Originalbeitrag
Veronika Doblhammer
2. Oktober 2002