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10. bezirk
martina
nie ist sie sicher, ob der kirchturm vom bergl grüßt oder droht, wenn sie heimfährt. sie sagt immer noch heimfahren, obwohl sie seit dreißig jahren in wien lebt. heimfahren heißt, ins dorf, zur familie, zur verwandtschaft, zu den vielen geschichten kommen, zurückkommen. der ähndl feiert seinen fünfundneunziger - und wer weiß, ob ihm noch ein jährchen bleibt. sie fährt also heim mit mann und sohn und schwiegertochter. alle sind zum geburtstagfeiern eingeladen; ein langes leben muss von vielen gefeiert werden: kinder, enkelkinder, urenkerln, schwiegerkinder, die nachbarschaft und eine ganze menge leute, von denen keines so genau weiß, wie sie eigentlich dazugehören. feiern heißt, die ganze verwandtschaft treffen, die neuen kinder und schwiegerkinder der onkeln und tanten und cousinen und cousins kennenlernen, begrüßen, händeschütteln, essen, trinken und tratschen. im größten wirtshaus von martinsdorf ist das extrazimmer reserviert, das essen ist natürlich gut, reichlich und fett, wie es sich gehört für einen solchen anlaß, sein hochzeitsessen sei weit nicht so gut gewesen, sagt der ähndl. es gibt rindsuppe, schnitzel, schweinsbraten, salate, torten, krapferln aller art, kaffee, schnaps und sogar zigarren, wein sowieso.
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