Leseprobe:
Die Stimmung an Bord ist ein weiteres Mal mehr als miserabel. Die Temperaturen sind weiter gefallen, und ich konnte deutlich sehen, dass wir kurz vor dem Morgengrauen Minusgrade hatten. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie die Menschen die hier im Freien übernachten müssen, das aushalten. Einige von uns haben versucht, mit den Türken zu verhandeln, dass sie uns wenigstens Decken bringen, doch die Beamten hier wollen von uns nichts hören. Auch Proviant und Medikamente für diejenigen, die mittlerweile tatsächlich erkrankt sind – zumeist Verkühlungen, vielleicht aber auch schon Grippe, wer weiß -, gibt es vorerst nicht. Herr Lothringer glaubt erfahren zu haben, dass die Türken von den Deutschen Hinweise erhalten hätten, dass wir allesamt von einer Seuche befallen seien, und vermutlich meinen die Deutschen das sogar ernst, denn für sie sind wir Juden ja als solche eine Seuche.
Aber auch hinsichtlich der Dokumente spießt es sich. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich Dir das schon geschrieben habe, aber wir verließen Rumänien ohne gültige Einreisevisa für Palästina. Es hieß, diese würden wir hier in Konstantinopel bekommen. Von wem, scheint aber niemand zu wissen. Und die Türken erklären anscheinend, ohne diese Visa könnten sie uns nicht weiterreisen lassen. Ich frage mich, was es die Türken angeht, ob wir in Palästina an Land gehen dürfen oder nicht! Vor allem aber, wenn sie uns einfach weiterfahren ließen, dann bräuchten sie uns auch nicht unter Quarantäne zu stecken und müssten sich nicht davor fürchten, sich bei uns anzustecken. Was allerdings das Schlimmste an unserer Situation ist, das ist die Tatsache, dass sie nicht einmal Kapitän Garabatenko an Land gehen lassen. Wie aber soll er einen Ersatzmotor für die „Struma“ auftreiben, wenn er das Schiff nicht verlassen darf? Hier beißt sich, wie es so schön heißt, die Katze in den Schwanz.
© 2016 Mandelbaum Verlag, Wien.