Wenn wir es für erforderlich halten, Wahrheiten, die von Interessengruppen unterdrückt werden, sichtbar zu machen, dann müssen wir diese erst einmal pastoso, mit zu dickem Pinselstrich, präsentieren. Dazu gehört sogar, daß wir Potentielles (selbst dann, wenn wir nicht wissen, ob es sich je verwirklichen werde) so behandeln, als wäre es bereits etwas Faktisches; in jedem Falle aber, daß wir Erscheinungen, die, weil ihnen Namen nicht vergönnt werden, "namenlos" gefährlich bleiben, mit Namen belegen. Was benannt ist, wird dadurch identifizierbar; oft sogar angreifbar; zuweilen sogar zerstörbar.
Wer über solche "Übertreibung" (vielleicht sogar im Interesse der Wahrheit) queruliert, der müßte, wäre er konsequent, auch über die Verwendung von Mikroskopen querulieren, da ja auch diese ihre Gegenstände "entstellen"; nein, der müßte sogar die gesamte experimentelle Naturwissenschaft über Bord werfen. Denn wenn der Naturwissenschaftler eine Versuchsanordnung aufbaut, und das, was bei diesem Arrangement geschieht, isoliert und vom Geschehen der Welt abhebt, dann "übertreibt" er ja ebenfalls; "von Natur aus" kommt sein künstlich arrangiertes und isoliertes Naturgeschehen ja niemals vor. - Und doch ist sein Versuch wahr, und zwar deshalb, weil er uns die Chance gibt, die nicht-arrangierte Natur zu erkennen. Warum sollte, was den Naturwissenschaftlern recht ist, uns nicht billig sein?
(S. 141 f.)
© 2002, Verlag C. H. Beck, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.