Leseprobe
(Hier möchte ich kurz innehalten, die Geschichte mit dem Drachen wirft doch einige Fragen auf. Es ist nämlich so, dass es für diese Drachengeschichte keinen einzigen Zeugen gibt. Es fragt sich darum, wie sie in die Welt kam. Wohl kaum durch den toten Drachen. Es war also Siegfried selbst, der die Nachricht, die Legende, das Gerücht in Umlauf setzte. Nicht auszuschließen, dass der Drachenkampf nie stattgefunden hat und dass Siegfrieds kolportierte Unverwundbarkeit gewissermaßen den Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung hervorrief, jedenfalls für die, die im Kampf gegen Siegfried schon rein mental nicht die geringste Chance hatten.
Aber gut, vielleicht geschah die Drachengeschichte tatsächlich. Wozu dann aber auch das Lindenblatt gehört, denn kein Unverwundbarer, der nicht auch eine verwundbare Stelle besitzt. In Siegfrieds Fall ein kleiner Bereich seines Rückens. Während er nämlich im Drachenblut badete, landete auf Schulterhöhe dieses unscheinbare Stück Natur, bedeckte seine Haut und bewahrte somit das Moment der Sterblichkeit. Wobei ich nicht ausschließen möchte, dass Siegfried selbst dieses Lindenblatt auf seinem Rücken platzierte. Denn wäre ein durch und durch unverletzbarer und somit untötbarer Held überhaupt noch einer?
Noch ein Wort zum Drachen. Es ist ausgesprochen realistisch zu nennen, wenn Fritz Lang in seiner Stummfilmversion der Nibelungen aus dem Jahre 1924 uns einen Drachen zeigt, der sich nicht etwa Siegfried in den Weg stellt, sondern vielmehr von dem Königssohn gejagt wird. Alles, was der Drache tut, ist pure Gegenwehr, die hilflosen Versuche einer Kreatur, sich gegen einen barbarischen Menschen zu wehren. Umso passender, dass letztendlich eine Schwanzbewegung des sterbenden Drachen einen Luftzug bewirkt, der wiederum jenes Lindenblatt vom Baum löst, welches abwärtsschwebt und wie von Gottes Hand gelenkt, auf dem Rücken des badenden Siegfried zum Liegen kommt.
Wie gesagt: Es gibt für all das keine Zeugen. Die ganze Geschichte kann Wahrheit sein oder reine Propaganda.“
(S. 11f.)
© 2014 Reclam Verlag, Stuttgart