Glasharmonika: Gerald Schönfeldinger
Fantasie aus dem Depot
Es liest der Autor
Spielzeit: 64:26 Min.
ISBN: 3-221-13402-0
Extraplatte 1999
Die gläserne Spinne, eine konzertante Erzählung für Glasharmonie, ist eine Coproduktion von Peter Wagner und Gerald Schönfeldinger, 1999 bei Extraplatte herausgekommen. Peter Wagner trägt in einer betont langsamen, bedächtigen Lesung seinen kurzen, aber sehr dichten Text vor, der in Dialog tritt mit den Glasharmonika-Kompositionen von Christa und Gerald Schönfeldinger.
Hauptfigur der Erzählung ist die Spinne Aurelia, die Königin des Depots. Sie hat ihr Netz in der Kreuzung der Hohlkehlen gesponnen, so schön, erhaben und perfekt, dass es den Neid und die Eifersucht der anderen Spinnen hervorruft. Der Schein trügt aber: Aurelia fühlt einen Schmerz, tief im Inneren. Je intensiver sie den Schmerz in ihrem Herzen spürte, umso lauter trällerte sie, um ihn zu betören und zu übertönen. Doch in dem Netz, das sie wob, erkannte man schon lange das Antlitz der Verzweiflung. Mochte es auch verzaubern vor Schönheit und Eleganz, so war es doch mit jenem Ehrgeiz zuviel gewoben, der verräterisch ist: Aurelias Netz war das größte im gesamten Depot, und doch schien es nicht wirklich hierher zu gehören, hierher in diesen dumpfen Stollen über Tag, der vom Schweiße der arbeitenden Spinnen und ihrer Asselbeute triefte.
Aurelia, die Schöne, leidet an ihrer Einsamkeit, vermeint, eine kleine Spinne aus Glas in ihrem Inneren wahrzunehmen, die mitten im beherrschenden Muskel ihres Herzens nistete, einem kleinen, kaum wahrnehmbaren Splitter gleich, der in ihrem Herzen saß und jenen dauerhaften Schmerz verursachte.
Aurelias Existenz wird in ihrer Brüchigkeit vorgeführt. Das ehemals elastische, feine Netz verwandelt sich in ein gläsernes, verwundbares. Erst löst sich nur ein Faden aus dem Netz, fällt klirrend zu Boden, schließlich prallt eine Fliege dagegen und zerstört es vollkommen. Aurelia wird vom Herzschmerz, von der kleinen gläsernen Spinne aufgefressen. Ausgehöhlt liegt ihr toter Körper auf den Scherben ihres zerbrochenen Netzes.
Ihren Platz an der Kreuzung der Hohlkehlen nimmt die kleine Spinne ein, die auch Aurelia heißt, und ebenso nach Vollkommenheit sinnt. Wiederholt sich die Geschichte?
Wagner erzählt, anschaulich untermalt von den Glasharmonikaklängen, eine Parabel vom falschen Leben, von der Anbetung der falschen Götter. Das Streben nach glänzender Perfektion, nach Vollkommenheit alles Äußeren, so oft getan, enttarnt sich als falscher Schein. Unterdrückte Leidenschaft, Beziehungslosigkeit und Einsamkeit versteinern, vergläsern die Herzen, führen zur eisigen Erstarrung.
Es ist nicht schön, allein zu sein, sang die deutsche Band Tocotronic, eine zwar banale Liedzeile, aber von durchaus fataler Wahrheit.
Originalbeitrag
Peter Landerl
25. Juni 2002