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Bettina Gärtner

© Lukas Dostal




Geb. 1962 in Frankfurt am Main, lebt seit 1969 in Wien. Machte sich im Bereich Grafik und Medienherstellung selbstständig und arbeitet heute an der Planung und Umsetzung von Kommunikationsprojekten mit. Ihrem Romandebüt „Unter Schafen“ (Müry Salzmann, 2015) wurde die AutorInnenprämie des Bundes für besonders gelungene Debüts zuerkannt.
www.bettinagärtner.at

Herrmann

(Romanauszug)

I

Am Morgen verließ Herrmann sein Haus im Anzug und mit dem Gefühl, die Krawatte schnüre ihm die Luft ab, dabei saß der Knoten noch so halsfern wie immer um die Zeit.

Statt zu schlafen hatte er sich wegen des Berichts gewälzt, den der Vorgesetzte Freitagmittag in Auftrag gegeben hatte, via iPad und ohne erreichbar zu sein.

Da er gegenüber seines Elternhauses wohnte, konnte er die Hunde auf die andere Seite schicken und seiner Mutter beim Einsteigen in sein Auto zurufen: „Ich bin früher dran, ja … Wie bitte? Die Arbeit, was täten sie ohne mich, genau … Mutti, ich muss, die Schnellbahn wartet nicht … Bis heute Abend, ja.“

An der Ortsausfahrt begann er in seiner Vorstellung, wieder einmal die alte Repetierbüchse seines Vaters zu reinigen, und übte so lange Zerlegen und Zusammensetzen, bis er auf die vierspurige Bundesstraße abbog. Er näherte sich im Rahmen des Tempolimits der Bezirkshauptstadt, in Gedanken fuhr er, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen, in die Bundeshauptstadt, ging dort mit den in einer Sporttasche verborgenen Büchsenteilen in die Verwaltungszentrale, setzte die Waffe in der Abteilung wieder zusammen, lud durch, löschte das Licht und wartete auf das Fräulein.

Das Fräulein durfte es genauso nur in seiner Fantasie geben. Würde er seine Mitarbeiterin so ansprechen, würde sie ihn verwarnen und ihn im Wiederholungsfall der Genderbeauftragten melden. Während er ihr in Gedanken auflauerte, stellte er das Auto in anhaltender Hochstimmung in der Park-and-ride-Anlage am Bahnhof der Bezirkshauptstadt ab, drehte eine Zigarette und trat sie beim Einfahren der Schnellbahn halbgeraucht aus, um sie aufzuheben und in den Abfallbehälter unter dem Umgebungsplan zu werfen.

Die Schnellbahn kam zum Stillstand, zugleich betrat jemand das dunkle Büro in seinem Kopf. Ob es seine Mitarbeiterin war, erfuhr er nicht mehr, als in seinem Kopf das Licht anging, machten die Zugstüren vor seiner Nase pffft. Die Fantasie brach ab, die Hochstimmung schlug ins Gegenteil um. Beim Einsteigen spürte er im Brustraum einen heißen kleinen Stich und musste sich abstützen. Er war froh, den unangenehm beleuchteten Waggon für sich zu haben, wählte seinen Platz und verteilte Schal, Tasche und Kurzmantel auf die umliegenden Sitze.

Beim Aufklappen des Laptops erschien das Gesicht von Rieke, von der er seit zwei Jahren getrennt war. Mit dem Vorsatz, endlich auch den Bildschirmhintergrund zu ändern, führte er den Mauszeiger über ihre Nase und ihren Mund und klickte den Office-Ordner an. Als die Schnellbahn anfuhr, stemmte er die Beine in den Boden und betrachtete sich in den Scheiben. Dreizehn Stationen in vierzig Minuten, nach dreiundzwanzig Jahren brauchte er keine Durchsagen mehr, kannte so früh am Morgen jedoch nur den Schaffner. An der Stadtgrenze füllte sich der Waggon, und er räumte Tasche, Schal und Kurzmantel für Unbekannte von den Sitzen.

II

Seit der Umstrukturierung wieder dritte Managementebene hatte Herrmann heute dennoch extra früh anfangen wollen. Nur um die ganze Zeit tatenlos durch den lang gestreckten Raum zu schauen, in dem die kleine Abteilung, die er nun leitete, ihren Aufgaben nachkam. Die sechs Computerarbeitsplätze, der ovale Besprechungstisch und der halbhohe, halbtransparente Raumteiler zwischen Begegnungszone und Kitchenette entsprachen bis ins Kleinste der Ausstattung des Büros seiner Fantasie, und er sorgte sich ernsthaft um seine Geistesgegenwart, seit er zuvor die Sporttasche vermisst und erst in der Kitchenette zu sich selbst gesagt hatte: „Du suchst hier nicht wirklich nach der Sporttasche“, um dann in einer Geschwindigkeit zu seinem Schreibtisch zurückzukehren, als könne der klare Herrmann den irren so noch abhängen.

Dass alles hier dem Tatort aus seinen Gedanken glich, ließ sich aber so wenig abschütteln wie der Umstand, dass seine Mitarbeiterin auch wirklich die Erste war. Er zog die Krawatte zurecht und schob die Taschentücher in die Schreibtischlade. Offizieller Arbeitsbeginn war in einer halben Stunde, Celine erschrak entsprechend, als sie ihn bemerkte. Er konnte sehen, wie sie sich zusammennahm, parierte ihr „Wie geht’s?“ knapp und, wie er fand, souverän, während sie seine Frage mit einem Gähnen beantwortete und überbetonte Müdigkeitslaute in Lachen übergehen ließ.

Die Genderbeauftragte, an die sie sich wenden würde, war zugleich die Mobbingbeauftragte, an die er sich wenden wollte, zumindest dachte er eben wieder daran. Manchmal, wenn er zu lange lächelte, vergaß er zu atmen. Dabei hätte er gar nicht mehr lächeln müssen, Celine hantierte bereits in der Kitchenette, um die Abteilung danach wieder zu verlassen, mit ihrer Handtasche unterm Arm.

Interne Kommunikation, Corporate Communications und Marketing teilten sich die WC-Anlagen auf dem Gang zwischen Getränkeautomat und Lift. Im Materialraum am Ende des Ganges war der Hausgrafiker untergebracht. Den Hausgrafiker teilten sich Interne Kommunikation, Corporate Communications und Marketing für Jobs, die sie nicht extern vergeben durften. Neben Herrmann war der Hausgrafiker der Einzige, der noch mit denen von der Hausdruckerei konnte. In der Hausdruckerei im Keller der denkmalgeschützten Verwaltungszentrale des vor der Jahrtausendwende zur Aktiengesellschaft verjüngten Unternehmens arbeiteten vor allem Unkündbare. Im Keller in der Überzahl, sank ihr Anteil mit jeder Etage. Der Hausgrafiker und Herrmann waren nur noch Angehörige einer Minderheit, zu der aber auch der Vorgesetzte zählte, der in der gesamten vierten Etage das Sagen hatte.

Die stets und allseits zuvorkommende Celine hatte den Hausgrafiker anfangs hin und wieder im Materialraum besucht. Nach einem Jahr in der Internen Kommunikation kamen ihre Freunde eher aus Corporate Communications und Marketing, ja sogar aus der Human Resources in der fünften. Zudem ging das Gerücht, sie habe im Sommer Beachvolleyball mit einem aus der obersten gespielt.

III

Die vier anderen Kollegen kamen pünktlich um acht. Vier Coffee-to-go-Becher, vier gleich klingende Rufe in seine Richtung, auf die er, ohne aufzusehen, „Guten Morgen“ sagte. Auf dem Boden seines eigenen Bechers war noch ein Rest von der Zuckermasse, die er in unbeobachteten Momenten gern herauskratzte.

Er drückte den Becher zusammen und ließ ihn in den Papierkorb fallen. Als kurz darauf der Zusteller für die Hauspost zur Tür hereinkam, war Celine noch nicht wieder zurück. Wovon sich der Zusteller zunächst überzeugte, um dann seinen Handwagen an Herrmanns Schreibtisch heranzuschieben und auf den von Celine zu deuten, bevor er ihr ein Aktenbündel hinlegte und leise auf Herrmann einzureden begann, der den Zusteller bald ebenso leise unterbrach: „Wieso will sie dich keine Akten mehr verteilen lassen? Fehlerquote, so ein Unsinn …“ Um dann lächelnd die Kiefer zu spannen und nur noch in Gedanken weiterzureden – … außerdem, was das Fräulein für richtig hält, hat es nicht dir anzuweisen, sondern mit mir zu klären, sollte ich für richtig halten, was es für richtig hält, weise ich es ihm entweder an, oder ich weise es an, es in meinem Namen anzuweisen oder eben nichts von beidem, das ist immer noch meine Abteilung, ich bin der Leiter … –, und dem Zusteller schließlich zu versichern, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse. „Hmmm“, machte der Zusteller, schaute zur Tür und auf die Kollegen, bevor er noch einen einzelnen Umschlag vom Wagen nahm. Herrmann erkannte den Absender des Betriebsmedizinischen Dienstes, bedankte sich und verbarg das an ihn gerichtete Schreiben in der Lade, um dann mit Seitenblick auf Celines Schreibtisch zu sagen, dass sich alles klären werde. Der Zusteller machte wieder bloß „Hmmm“ und schob seinen Handwagen – den er ebenso gut auf dem Gang hätte stehen lassen können – in Richtung Tür.

Die Kunst der Unkündbaren der unteren Ebenen bestand in Herrmanns Augen darin, gründlich, aber nicht langsam zu arbeiten. Wer überflüssig wirkte, fand sich früher oder später im Bereitschaftszimmer neben der Portierloge wieder, wo viele ältere Unkündbare, darunter auch der Zusteller für die Hauspost, in der Regel bis Dienstschluss warteten, ob jemand im Gebäude sie brauchen würde.

Er begann Nachrichten zu sichten, so gut wie jede bezog sich auf die Aktion Gesundheitsplus für Mitarbeiter Vierzigplus. Eine nachhaltige Veränderung des Lebensstils brauche Verständnis, Unterstützung, Rückhalt, darin waren sich Unternehmen und Agentur einig gewesen. Die Agentur hatte zu kompromisslosem Branding geraten, online wie offline, so hatte es der Schriftzug bis auf die Umschläge aus der Betriebsmedizin geschafft.

Mit der ersten Vorsorgeaktion für Beschäftigte ab dem vollendeten vierzigsten Lebensjahr hatte das Unternehmen neue Maßstäbe setzen wollen und Herrmanns Team mit Celine verstärkt, auf Basis eines befristeten All-in-Vertrages mit Aussicht auf Verlängerung. Die Vorbereitungen hatten die Abteilung über Monate in Atem gehalten: Neben den fünf internen Berichtsebenen waren unterschiedlichste Interessensvertretungen und -gemeinschaften miteinzubeziehen gewesen, die staatliche Kommission für Arbeitsmedizin, die eigene Human Resources-Abteilung und natürlich der Vorstand.

Rieke war auch im Büro noch Herrmanns Bildschirmhintergrund, hier konnte er sie mit der sechsunddreißig Einzeldateien umfassenden Vorauswahl maßgeblicher konzeptueller und gestalterischer Entwicklungsschritte unsichtbar machen. Freitagmittag, nach Einlangen der Mail des Vorgesetzten mit der Bitte um ein Reporting, mit dem er sich kommende Woche im Ministerium blicken lassen könne, hatte Herrmann die Agentur noch um die Zusammenstellung gebeten. Die nette Praktikantin hatte sie ihm am Wochenende in die Projekt-Cloud geladen, mit vielen lieben Grüßen, auch vom Junior Creative Director.

Neben den sechsunddreißig Einzeldateien hatte er zahlreiche Mails offen, darunter seine Antwort an den Vorgesetzten mit Ersuchen um Präzisierung in Sachen Handouts und Deadline, kommende Woche könne alles heißen. Der Vorgesetzte wünschte sich griffige Visualisierung. Der Hausgrafiker würde auf Verdacht beginnen müssen, also trug Herrmann die Abteilungsbesprechung – das Meeting nach Tisch – auch noch in dessen Terminplaner ein und benutzte in seiner Begleitmail Ausdrücke wie in letzter Sekunde und zusammenschustern.

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© Bettina Gärtner, 2018

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