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Rezension
Leseprobe:
Die Schwalben sind da. Manchmal verändert so etwas alles. Du stehst irgendwo, zum Beispiel vor dem Haus, und denkst nach oder betrachtest die Wolken wie an jedem Tag, und nach einer Weile merkst du, dass etwas anders ist. Du blickst erst den Horizont entlang, über die Hügel, die Dächer, die Baumkronen. Dann suchst du nach einem Pfeifen in der Luft, nach einem Brummen oder vielleicht nach einem Geruch. Am Ende schaust du nach, ob du dir unbemerkt in deine Kleider ein Loch gerissen hast, am Ärmel vielleicht, am Knie oder unter der Achsel. Du findest nichts. Plötzlich weißt du es: Es sind die Schwalben, die zurück sind.
Sonst ist heute alles wie gestern. Die jagenden Wolken, die Maulwurfshügel, die abgebrochenen Äste unter den Obstbäumen, der Kleiber, der vorne die Scheunenwand auf und abläuft. Kleiber sind Glückstiere, sagt Laurenz, genau wie Kröten oder Igel oder Hirschkäfer. Elstern und Füchse bringen Unglück, sagt er. Die Schwalben stoßen herab wie Pfeile und ziehen schräge Schleifen zwischen Scheune und Stall. Es sind die mit den weißen Bäuchen und den V-Schwänzen, nicht die mit den Gabelschwänzen und den roten Kehlen. Rauchschwalben, Mehlschwalben. Es ist sinnlos, ich verwechsle sie ständig. Ab und zu setzen sie sich für ein paar Sekunden auf den Scheunenfirst. Bei den Schwalben bin ich mir nicht sicher, ob sie Glück bringen oder Unglück.
Ich gehe hinten ins Haus, steige die Treppe hoch, trete rechts in die Mädchenkammer und hole mir eins der braunen Hefte aus dem Schrank, einen Bleistift und das kleine Taschenmesser mit dem Horngriff. Keiner sieht mich. Wieder runter und raus. Ich laufe vom Scheunentor schräg über die Wiese zum Hausgarten, den grauen Lattenzaun entlang und dann zwischen den Feldern den Hügel hinauf. Ganz oben, seitlich von einem verkrüppelten Schlehdornbusch, drehe ich mich rasch um die eigene Achse, einmal und noch einmal und noch einmal. Dann setze ich mich in die Wiese. An dieser Stelle, dicht neben dem Busch, ist der Boden fast immer trocken. Ich blicke mich um. Hier sehe ich alles. Hier ist mein Platz.
Sie sagen, ich heiße Nelly. Manchmal glaube ich es, manchmal nicht. Manchmal denke ich, ich heiße Elisabeth oder Katharina. Oder Isolde, wie die junge Verkäuferin aus dem Hutgeschäft. Von Zeit zu Zeit gehe ich ihretwegen runter in die Stadt. Wenn ich vor dem Geschäft auf der Straße stehe und durchs Schaufenster blicke, schwebt drinnen der Isoldenoberkörper durch den Raum, die Regale entlang, hin und her. Der Kopf mit dem kastanienroten Aufsteckzopf schwebt mit. Von der Taille abwärts sieht man sie nicht. Ich stelle mir vor, dass sich ihre untere Hälfte irgendwo hingesetzt hat. Vielleicht ist ihr das Hin-und-her-Gehen zu anstrengend geworden. Vielleicht mag sie auch den Aufsteckzopf nicht oder die Art, in der die obere Hälfte Was kann ich für Sie tun? sagt. Solche Dinge erzähle ich aber niemandem.
Sie sagen, ich bin dreizehn, es gebe da ein Dokument, genau genommen einen Zettel mit Stempel, auf dem mein Name und mein Geburtsdatum stehen. Ich habe den Zettel nie gesehen. Außerdem ist mir mein Geburtstag egal. Hier feiert niemand Geburtstag. Namenstag ja, Geburtstag nein. Wann mein Namenstag ist, weiß keiner. Wenn ich nach ihm frage, zucken sie mit den Schultern. Wenn ich nach der Schule frage, werden sie nervös. Laurenz sagt, der Mensch muss zwar etwas lernen, aber alles zu seiner Zeit. Momentan sei es für alle das Beste, wenn ich mit der Schule noch eine Weile warte. Was für mich wirklich das Beste ist, weiß ich nicht.
Ein paar Dinge weiß ich sicher: Ich bin seit einhundertsechsundvierzig Tagen da. Ich habe einen Plan. Manchmal lüge ich.
Ab dem dritten oder vierten Tag habe ich in mein erstes braunes Heft Striche gemacht, auf die letzte Seite und für jeden Tag einen. Vier Striche senkrecht, einen quer, lauter Fünferpakete. »Woher weißt du, wie das geht?«, hat mich Laurenz gefragt. »Keine Ahnung«, habe ich gesagt, und er drauf: »Wie ein Kampfpilot.« Das Heft hat er mir damals gegeben, einfach so. »Du siehst aus wie eine, die gern schreibt«, hat er gesagt. Er selbst habe auch einmal so ausgesehen. Das habe dazu geführt, dass man ihn erst ins Priesterseminar gesteckt und dann zum Frontschreiber gemacht habe.
(S.7 ff)
© 2017 Deuticke Verlag, Wien
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