Leseprobe:
Kein Mensch besucht mich,
Wie lange saß sie jetzt schon da? Ihre Uhr war offenbar stehen geblieben.
Kein Mensch besucht mich, wiederholte er.
Und ich? Bin ich kein Mensch?
Er schloss die Augen.
Hast du die Briefe aufgegeben?
Natürlich. Vorgestern.
Richtig frankiert?
Ja.
Sie wird nicht kommen, sagte er.
Ob sie die Frau anrufen sollte? Sie bitten, den Vater zu besuchen? Dieses Herz mit seinen Narben, Gefäßverengungen und Extrasystolen, dieser Mensch, der alle Enttäuschungen bewahrt und alle Freude vergessen hatte, hatte sich frisch verliebt in eine Frau, die vor dreißig Jahren seine Freundin gewesen war.
In die Frau oder in ein Bild von ihr?
Vielleicht hatte er in jeder seiner neuen Verliebtheiten ein Bild von sich selbst erschaffen, das dann vor der Schärfe seines eigenen Blicks zerbrach. Er konnte die Frauen hervorblitzen lassen unter den Schichten ihrer Resignation, ihrer Selbstzweifel, konnte ihnen zeigen, wie sie gemeint waren, ihnen ihre eigene Schönheit vorführen wie ein Geschenk. Dafür liebten sie ihn, dafür liebte er sie. Wenn der Augenblick vorbei war, verlor er das Interesse an ihnen, sie erloschen und hassten ihn dafür.
(S. 87-88)
© 2019 Czernin Verlag, Wien