Hg. von Barbara Rieger.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2021.
256 Seiten; geb.; Eur 22,90; E-Book 16,99.
ISBN: 978-3-218-01226-3.
Mit Texten von Daniela Strigl, Gertraud Klemm, Gustav Ernst, Daniel Wisser, Bettina Balà ka, Michael Stavaric, Angela Lehner, Martin Peichl, Barbara Rieger, Thomas Stangl, Petra Ganglbauer und mit dem Originaltext von Arthur Schnitzler
Barbara Rieger
Leseprobe
Angelehnt an Arthur Schnitzlers Bühnenstück Reigen, das in zehn erotischen Dialogen die unerbittliche Mechanik des Beischlafs schildert und, 1920 in Berlin uraufgeführt, einen der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts auslöste, lud Barbara Rieger 100 Jahre später Autorenkolleginnen und -kollegen zu einem kollaborativen Projekt: eine Adaption der zehn Reigen-Dialoge in Prosa. Fünf Autorinnen und fünf Autoren ließen sich von Schnitzlers Vorlage inspirieren und reagierten in einer Art Stille-Post-Verfahren jeweils auf den vorangehenden Text.
Die grundsätzlichen Fragen nach der Darstellbarkeit sexueller Begegnungen, nach der Rolle von Machtpositionen, nach der gesellschaftlichen Akzeptanz weiblichen Begehrens sind heute so aktuell wie damals. Das Projekt Reigen Reloaded liefert nicht nur sprachlich ein modernisiertes Abbild der Begierde, es spiegelt auf gleichzeitg unterhaltsame und schmerzliche Weise unseren Zeitgeist wider. Intrige, Macht, Hierarchie und Leidenschaft, die Ur-Themen des Reigen, treffen auf die heutige Single-Kultur mit ihrem Zwang zur Selbstoptimierung, ihren Bindungsängsten und koketten kleinen Seitenhieben auf die Neurobiologie, die Verliebtheit ganz nüchtern als körpereigenen Drogenrausch klassifiziert. Nicht zu vergessen die Herausforderungen und Möglichkeiten der digitalen Welt!
Das Buch beginnt mit einem Videochat am Smartphone, geschrieben von Gertraud Klemm. Die 14-jährige Schülerin Leonie trifft darin auf den 30-jährigen Schulwart Josh, eigentlich Josef. Die Grenzen der Einvernehmlichkeit erweisen sich als sehr dehnbar während dieses Chats, in dem Leonie, leicht bekleidet auf dem Bett in ihrem Jugendzimmer lümmelnd, erst ihre Urlaubsfotos aus Grado, dann ihre nackten Brustwarzen – "Ich weiß nicht, ob ich das mag" (28) –, am Ende ihre Schamlippen via Handykamera präsentiert. Hat Josh nun einen Screenshot gemacht oder doch nicht?
In Michael Stavarics Geschichte "Anna & Herbert" dokumentiert eine Überwachungskamera den Betrug der Ehefrau, in verpixelten, schummrigen "Körnchenbildern", die kaum etwas erahnen lassen, während wir Leser/innen die Szene bereits zuvor in leuchtenden Farben miterlebt haben.
Ausgespart bleibt im Reigen Reloaded – ebenso wie in seinem Vorbild – die romantische Liebe, sie hat in diesem erotischen Karussell keinen Platz. "Was geht mich denn deine Seele an?", sagt bei Schnitzler die Schauspielerin zum Rittmeister. In Barbara Riegers Text bittet der Dichter die Schauspielerin: "Lach nicht, lach mich nicht aus (...) ich will, dass du eine Hauptrolle spielst, in meinem Leben." Dass sie noch keinen Mann so begehrt hat, denkt sie währenddessen, schon lange nicht mehr, nicht mehr seit Fritz (...) nur nicht an Fritz denken, am besten gar nicht denken, gar nicht reden. (96)
In Bettina Balà kas Erzählung "In nördlichen Wäldern" präsentiert die Galeristin Anna dem Catering-Unternehmer Benedikt zuerst ihre Kondome. "Wird schon passen", sagt dieser. "Aber warum so sachlich die ganze Zeit? Bist du denn gar nicht romantisch? Das ist ja kein Tinder-Date. Auf Tinder sind auch alle ganz romantisch, sagt Anna, im Chat heißt es: Ich will mit dir an einsamen Stränden die Seelen verschmelzen lassen und so weiter, und dann im real life: wham, bam, thank you ma'am." Diesen trockenen Zynismus kontrastiert die Autorin scharf mit den inneren Bildern Annas, und die nun folgende, tatsächlich hochromantische und sprachlich schillernde Beschreibung weiblicher Empfindungen während eines Liebesaktes ist im Kontext dann doch überraschend und bannt den Blick wie ein magisch anziehendes Gemälde: "Die Liebesnacht ist wie Eislaufen auf einem einsamen Fluss in nördlichen Wäldern ..." (siehe Leseprobe)
"Nicht die Sprache der Wollust, sondern die Wollust der Sprache" mache Reigen Reloaded zu einer Übung in Empathie, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl in ihrem Vorwort, das klug auf einzelne Textstellen eingeht und das weite Land erotischer Beziehungen im Damals und im Heute anschaulich thematisiert. Strigls Vorwort ist dabei ebenso spannend zu lesen wie die zehn literarischen Episoden, die vom antiquarischen Rahmen des Reigen keineswegs beengt wirken – vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass sie sich lustvoll aus der Vorlage heraus entwickeln.
Ein ausdrückliches Lob verdient auch der Verlag für die ausnehmend schöne Gestaltung dieses Buches, das, obwohl elektronisch erhältlich, unbedingt als analoges Kunstobjekt im Bücherregal stehen sollte.
Sabine Schuster
09.03.2021