Klagenfurt: Ritter Verlag, 2021.
166 Seiten, broschiert, mit Zeichnungen der Autorin, 14,90 Euro.
ISBN 978-3-85415-623-9.
Ilse Kilic
Leseprobe
Texte sind Netze, Gewebe, Geflechte, voller Stimmen und Reflexionen von Gelesenem und Erlebtem. In ihrem jüngsten Buch "Fadenspannung. Eine Verbündung" nennt Ilse Kilic die Stimmen der anderen beim Namen, nimmt sie sichtbar auf in ihren Text, gibt sie wieder als Ausgangspunkte ihres Dialogs mit dem Leben. Auf diese Art entsteht eine Art literarisches Reflexionsportfolio: ein Geflecht aus Gedachtem, Erlebtem, Gelesenem, Geschriebenem, Gefürchtetem, Überstandenem, Erträumtem, Gewünschtem, gespiegelten Überlegungen und überlegten Widerspiegelungen.
Der Titel "Fadenspannung. Eine Verbündung" ist Programm: Ilse Kilic zieht einige Fäden dieses Gewebes aus Leben, Lesen und Schreiben heraus, dröselt sie diskursiv auf und zieht sie wieder an, spannt sie zu einer literarischen Verbündung: Wir sind alle nicht allein, wenn wir schreiben. Schreiben ist etwas Kollektives, Ergebnis diskursiver und lebensweltlicher Eindrücke, manchmal auch der Kollaboration in einem gemeinsamen Text. Ilse Kilic macht explizit, was in literarischen Texten oft implizit bleibt: die Auseinandersetzung mit den eigenen autobiographischen Erfahrungen und mit den Texten anderer. Sie verbündet sich mit anderen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, spinnt ihre Texte weiter, dreht und wendet sie, kehrt das Innerste nach außen, jongliert mit Möglichkeiten und mit der Sprache – und mit Möglichkeiten in der Sprache.
Die Leser*innen werden auf eine Reise durch Gedankenwelten in 27 Kapitel-Etappen eingeladen, mit einer Reiseführerin, die umsichtig alles mitliefert, was man und frau brauchen, um das Buch zu genießen. Wer sich im Dunstkreis des Fröhlichen Wohnzimmers oder der österreichischen Kleinverlagsszene bewegt und auskennt, wird vieles wiedererkennen, vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch selbst ganz direkt angesprochen, aber nicht nur Insider*innen werden sich angesprochen fühlen.
Ilse Kilic schreibt immer nachvollziehbar, niemals hermetisch, liefert ausführliche Zitate von Gedichten und Prosatexten mit, auf die sie selbst antwortet, in eigenen Gedichten, Gedankenspielen und Einblicken in Erlebtes oder früher Geschriebenes. Auch Anspielungen auf frühere eigene Romane sind nicht nur vorhanden, sondern ganz explizit und nachvollziehbar. Kein Rätselraten, sondern ein offenes Gespräch. Wie schon in früheren Büchern, erzählt Ilse Kilic sehr persönlich von sich selbst, offen, schonungslos, und immer mit einem kleinen Augenzwinkern, das auch in den Illustrationen schön zum Ausdruck kommt, die die Kapitel des Buches miteinander verbinden.
Es ist also nicht unbedingt ein Buch über das Lesen, sondern vielmehr ein Buch über das Leben – und das Lesen ist eben ein Teil davon. Ebenso wie das Schreiben, das Wirtshaus, der Ärztenotdienst, die Vergänglichkeit, Sehstörungen und Wahrnehmungen, der Körper und seine mehr oder weniger funktionstüchtigen Bestandteile, die Frage nach dem Ich und der Autor*innenschaft oder nach Romanfiguren, die sich selbstständig machen und in späteren Texten wieder auftauchen und zu Wort melden. Beim Lesen über das Leben wird aber klar, dass andere vielleicht Ähnliches erlebt oder über ähnliche Fragen des Lebens nachgedacht haben. So wird Biographisches mit Gelesenem zur literarischen Gedankenwelt verwoben, immer wieder mit einem gewissen konstruktivistischen Misstrauen der "so genannten real existierenden Wirklichkeit" (S. 33) gegenüber.
Ilse Kilic verwischt die Übergänge zwischen Lyrik und Prosa, Essay und Sprachspiel, Leben und Literatur mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Nicht im Magen, nein im Kopf kommt alles zusammen. Und auch wenn die Weltlage schon einmal mit "Wuäh!" kommentiert wird, hält die Autorin bereits in der Präambel fest, worum es ihr geht: "Die Zukunft hat die Angst nicht verdient. Nimm, tapfere Leserin, die Augenblicke, steck sie in die Taschen wie dicke Kastanien, mehr ist heut nicht zu holen und morgen ist auch nur ein heute." (S. 7) Was folgt, ist ein Buch voller Kastanien und anderer Augenblicke, die es lohnt, sich immer wieder einmal in die Gegenwart zu holen. Erst beim Lesen und dann beim Blättern und Wiederlesen. So, wie es in einem Nachsatz zu einem Gedicht Fritz Widhalms heißt: "Ich möchte nicht, dass gestorben wird. (…) Ich möchte keine Sperrstunde. Ich möchte immer noch ein Bier.
Noch ein Bier. Noch ein Bier. Noch ein Bier." (S. 70)
Oder: Noch ein Text. Noch ein Text. Noch ein Text.
Mit vielen Augenblicken und Kastanien.
Sabine Dengscherz
10. März 2021
Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser/innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.