Neue österreichische Lyrik von Alexandra Bernhardt, Margret Kreidl, Martin Kubaczek, Gerhard Ruiss, Erika Wimmer Mazohl, Herbert J. Wimmer und Peter Paul Wiplinger
Der 21. März wurde von der UNESCO zum Welttag der Poesie ausgerufen. Mit dem Aktionstag soll gezeigt werden, dass die Poesie auch im Zeitalter der neuen Informationstechnologien einen wichtigen Platz im kulturellen und gesellschaftlichen Leben einnehmen kann. Wir stellen Ihnen aus diesem Anlass einige frisch gedruckte Lyrikbände aus Österreich vor, die Sie aktuell in den Buchhandlungen erwerben bzw. auch bei den jeweiligen Verlagen online bestellen können.
Alexandra Bernhardt: Europaia.Gedichte. Sisyphus Verlag, 2021.
Wer oder was ist Europa – oder wo oder wann? Infantin und Trabant, eine sprachhistorische Spur von Island bis in den Pandschab, ein Jungfrauenraub und zahllose Eroberungszüge, Mythos und Logos, die Achse Rom-Athen-Jerusalem, blühende Kultur und überbordende Gewalt: In neun Zyklen und einer Reprise spüren die Gedichte des vorliegenden Bandes "Europaartigem" nach. Dabei ist dessen Wesen ein durchaus widersprüchliches: zeugend aus Erde und Feuer, schöpfend aus den Fluten des Meeres vereint es Gegensätze und gebiert beständig Neues aus scheinbar Unvereinbarem.
Agenoride Du : Európe, Verruchte Geliebte des Himmels Magd des Stieres Du reitest die Wellen schäumenden Blutes Du gebierst die Schatten des Herds und der Erde Du bereitest ein Feuer wo Wasser nur war die Luft zerteilst Du auf daß Gestalt wird was Ahnung was Lehm nur was Möglichkeit war
Alexandra Bernhardt, geboren 1974 in Bayern, lebt als freie Autorin, Übersetzerin und Herausgeberin in Wien.
Spiel und Regel gehören für Margret Kreidl zusammen, gerade im Gedicht. Sie verwendet in »Schlüssel zum Offenen« das G-E-D-I-C-H-T buchstäblich, als Codewort für ihre siebenzeiligen Gedichte. Mit dieser strengen Vorgabe macht sie die Möglichkeiten des lyrischen Sprechens sichtbar: freie Verse, Reime, Listen, Zeilensprung. Die Autorin verortet ihr Schreiben in der Zeit, in der Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, deren Krise sich in der Sprache spiegelt. Sie versteht das Gedicht immer auch als Dialog mit anderen, mit Literatur, Kunst und Medien. So kommen Anne Carson und Candy Crash zusammen, Live-Ticker und Märchenmotive, Tendenzbären und Trolle, Wanderkrapfen, der Hinkjambus und das türkische Wort haymatloz.
Geschichtete Linien, verwischte Flecken, ein Satz treibt aus: Blätter und Blüten, die meine gemischten Gefühle beschreiben. Ich als Blattwerk: Furcht und Entzücken. Chrysanthemen sind goldene Bitten. Hast du auch ein Blütengeheimnis? Teil es mit mir, das Blühen der Krise.
Gibt es eine stumme Göttin des Begriffs, eine verborgene Herrscherin über das Ding an sich? Mit der Maske im Gesicht verstehst du nichts. Cindy Klink will deine Lippen lesen. Hörst du mich? Das Mundbild fehlt. Wie teile ich meine Gebärden mit dir?
Margret Kreidl, geboren 1964 in Salzburg, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Theaterstücke, Hörspiele, Prosa, Gedichte.
Martin Kubaczek, Rosemarie Hebenstreit: Die Süsze einer Frucht. Pflanzenikonen. Bibliothek der Provinz, 2021.
Scherenschnitte und Vorzeichnungen von Rosemarie Hebenstreit, Texte und Bilderlesungen von Martin Kubaczek.
"Lange Zeit habe ich mich ausschließlich auf Silhouetten konzentriert, also das Schattenbild einer Pflanze. Die Herausforderung aber Einschränkung, die sich dabei stellt: es eignen sich nur zarte Motive – wie etwa Gräser. In letzter Zeit habe ich von dieser puristischen Herangehensweise gelöst, immer noch finde ich die Silhouetten-Form des Scherenschnitts klassisch und wunderschön. Schwarz und Weiß. Licht und Schatten. Form und Kontur." (Rosemarie Hebenstreit)
Martin Kubaczeks kleine Texte erscheinen unspektakulär, ja unlyrisch, wirken oft nicht wie Gedichte, sondern eher wie kleine Erzählungen in schlichter Prosa.
Aus der Dichte: Schneekranz unter Laubdach, Sägezahn, trennscharf gezackt, zerbissener Rand Falte im Blatt, die führt den Tropfen zur Erde, leitet ab schützt, blitzt und strahlt zierlich, vergnügt, kleine Blumen Sternstaub und Blütenkranz schwarze Rippe, Antenne, dünner Rand Girlande, fein behaart ein Zungenreiz gegenständig gegengleich verschämt in charmanter Pracht
Mohnmehlbestäubt, dicht Lippe und Lappen, schneckenhaft kriecht getigerte Zacke, kleiner Drache, Reptil fliegt um Blütendolden, wiegt tintige Schwärze, Papier mit Milch gesättigt, sämig, flüssig und wild oder mild, Sehne und Sägezähne Papiere, an Fäden geknüpft mit den Zeichen für daifuku: großes Glück kleines Glück - mittleres Glück - am Lichterfest (die bunten Lampions siehst du sie nicht?), der dumpfe Trommelklang, und über dir im Himmel dunkel zuckend die Fledermausschrift
Brennessel (Urtica dioica)
Martin Kubaczek, geb. 1954 in Wien, Musiker, Literaturwissenschaftler, Autor. Zahlreiche Publikationen zur Gegenwartsliteratur und Kunst, Prosa und Lyrik im Folio Verlag und in der Edition Korrespondenzen.
Rosemarie Hebenstreit, geb. 1958 in Wien, Violinstudium am Konservatorium der Stadt Wien, Medizin-Studium, Ärztin in der psychiatrischen Rehabilitation, Zeichnerin und Scherenschnitt-Künstlerin.
So eindeutig sich Titel und Untertitel dieser Sammlung geben, so uneindeutig sind sie gemeint. Drei persönlichen Ansprachen folgt ein nicht mehr auf Menschen bezogenes "Liebstes". Nur eine der drei persönlichen Ansprachen verweist auf Liebesbeziehungen, die beiden anderen dienen zur Belobigung oder Belehrung. Noch klarer kommt die Vielschichtigkeit des vermeintlich vorbehaltlosen Zuspruchs im Untertitel zum Ausdruck. Ob ein Gedicht jemanden andichtet oder wogegen es andichtet oder was es wem andichtetet, lässt sich nur im konkreten Einzelfall sagen.
"die gedichte in lieber, liebste, liebes, liebstes wollen das lebens- und liebesglück nicht übertreiben, aber herausfordern doch." (Gerhard Ruiss im Vorwort)
auch erreicht sobald wir uns einig waren darin wir würden nie miteinander den mount everest besteigen bestiegen wir ihn.
damit du es gleich weißt nicht die ganze nacht nicht die halbe nacht nicht eine sekunde lang keinen wimpernschlag habe ich wach an dich gedacht.
im freibad der mit der leopardenfellhose oben eng an den körper angebunden unten ein lendenschurzchen: jane! unter all den wildfremden wie hab ich dich gefunden?
warten endlich ist es soweit und der kapitän trifft ein dabeisein rechtzeitig beim untergehen.
Gerhard Ruiss, geboren 1951 in Ziersdorf/NÖ. Autor, Musiker, Geschäftsführer der IG Autorinnen Autoren.
Gedichte zu Dante Miniaturen von Markus Vallazza. Mit einem Nachwort von Günther Oberhollenzer.
Der Südtiroler Maler und Radierer Markus Vallazza (1936–2019) befasste sich fast zehn Jahre lang mit Dantes Divina Commedia und schuf eine viel beachtete Serie hochwertiger Radierungen. In den Skizzenbüchern dazu finden sich u. a. nicht weniger als 378 Variationen auf ein bekanntes Dante-Porträt, ein Profilbild mit markanter Hakennase. Erika Wimmer Mazohl ließ sich von diesen Miniaturen – auch »Psychogramme« oder »Kopfgeburten« – aus dem Skizzenbuch zum Inferno anregen. Ohne allzu offensichtlichen Bezug auf Dante und Vallazza entsteht ein Panorama des Individuell-Menschlichen von der intimen Liebesbeziehung mit aller Körperlichkeit über Reisen an andere Orte, in andere Zeiten und andere Milieus bis zu umfassenden Verortungen auf der Erde oder gleich im Universum. Erika Wimmer Mazohl gestaltet plastische Szenen und erzählt kleine Geschichten, gewichtet sorgfältig ihre Sprachen – das Deutsche und in Einsprengseln auch das Italienische – und versieht ihre witzigen, archaischen, erschütternden Texte jeweils mit einer Zuordnung: Kartografisch etwa liest man da, planetarisch, libidinös, expressiv, maskiert oder verschnupft. Ein anregendes, mehrschichtiges Lesevergnügen, denn kein Mensch und kein Gedicht hat nur ein einziges Gesicht.
[ätzend]
für markus vallazza
ätz mich ich bin deine platte greif mich an und mach dir ein bild all die tierchen im kopf lass sie fallen lass sie fallen auf mich und ätz !
du ätzt und ich mach dich verrückt denn es kratzt dich am kinn und du kratzt ziehst die linien im richtigen schwung wie die ameise tanzt tanzt auch du
hinter deinen stirnfalten krabbeln die ideen wie lasius niger formica paralugubris lässt die schuppen fallen und gibt dir neue texturen ein
denn du hast etwas auf der platte deine krausen gedanken ziehn mit der säure hinein ins bild erst der druck lässt die ameisen los
Erika Wimmer Mazohl, geboren und aufgewachsen in Bozen/Südtirol, studierte in Innsbruck und ist Mitarbeiterin des Forschungsinstituts Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Neben Essays zur Literatur publiziert sie seit 1992 auch Romane und Erzählungen, Theaterstücke und Lyrik.
Im Limbus Verlag gibt es eine eigene Lyrikreihe, die man sogar im Abonnement beziehen kann: Limbus Lyrik Abo. Im Frühjahr 2021 erscheinen bei Limbus weitere Lyrikbände von Isabella Feimer, Stephan Eibel Erzberg, Jana Volkmann und Marcus Pöttler.
Text-Raum-Zeiten und Zeit-Text-Räume – Gegenwarten sprechen kontinuierlich miteinander – in Gedichten, als Gedichte und Gedichtartigkeiten. "Schon Zeit im Kontinuum" ist der Abschlussband des Ganze Teile-Elfriede-Gerstl-Zyklus; in seinen 100 Arbeiten lassen sich gut Entwicklungen und Metamorphosen erkennen: aus Trauer wird Freude, das erste Jahr nach dem Tod der Freundin Âöffnet sich in eine kommunikationsfreudige und konÂtinuierliche Textproduktion, die bis in die unmittelbare Gegenwart führt. Stichwort Freude: was Neues und Überraschendes in jedem Schreibvorgang zu entdecken und im nächsten Text unverzüglich auszuführen, ist der Motor des Schreibens. Das unausgesprochene Motto all dieser GedichtÂartigkeiten lautet: Dichten heisst offen lassen.
wunsch-system-theorie sich was ausdenken in dem man aufgehoben ist was einen aufhebt im denken das einen denkt das einem was denkt mit dem man sich was denkt was einen aufhebt systematisch
Herbert J. Wimmer, geb. 1951 in Melk, aufgewachsen in Pöchlarn, NÖ. Lebt als Schriftsteller in Wien. Seit 1973 Lebensfreundschaft und -partnerschaft mit der Schriftstellerin Elfriede Gerstl.
Peter Paul Wiplinger: Ausklang. Gedichte 2010–2020. Edition pen im Löcker Verlag, 2021.
Der Band vereint hundert lyrische Texte, die, zehn Jahre umfassend, die sich verändernde innere und äußere Welt ansprechen, Erfahrungen reflektieren und Erinnerungen noch einmal aufleben lassen. Die feinfühligen und sensiblen Gedichte deuten die Vergänglichkeit des Menschen immer wieder auf zarte und subtile Art und Weise an und blicken auf Erlebnisse aus einem überaus reichen Jahrzehnt zurück. (penclub.at/blog)
AM MORGEN
leise klavierklänge irgendwo im haus
du fragst mich wie es mir geht
ich sage danke gut zittere am körper
wieviele morgen noch denke ich bleiben mir
alles ist ja ungewiß entweder so oder so
und alle meine wege sind nahe am abgrund
den ich entlang gehe an dem ich nun stehe
Peter Paul Wiplinger, Schriftsteller und künstlerischer Fotograf. Geboren 1939 in Haslach, Oberösterreich. Lebt seit 1960 in Wien. Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Vorwiegend Lyriker, aber auch Kulturpublizist und Prosa-Schriftsteller.
RED, 18. 03. 2021 Alle Informationen und Gedicht-Zitate sind den jeweiligen Verlagsinformationen bzw. den vorgestellten Büchern entnommen