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Thomas Mulitzer: Pop ist tot.

Roman.
Kremayr & Scheriau, Wien 2021.
192 Seiten; gebunden; Euro 20,-.
ISBN: 978-3-218-01281-2.

Thomas Mulitzer

Leseprobe

"Angenommen, Pop ist wirklich tot. Dann ist auch Punk tot. Wovon sollen wir uns denn abgrenzen, wenn Pop nicht mehr existiert?"
Franz-Xaver ist um die Vierzig und arbeitet als Content-Manager in einem Team mit "altgedienten Lesben, blutjungen Bloggerinnen mit Turnbeuteln und Birkenstocksandalen und einer Handvoll Praktikantinnen" in einer schicken Agentur, die sich in einer revitalisierten ehemaligen Salzburger Ziegelfabrik mit Full-Service-PR-Agenturen, IT-Start-ups und Luxus-Trachten-Shops Co-Working-Spaces teilt. Als einziger Mann in dieser "Hipsterhölle" erfüllt er die Quote, ein Zeichen, dass auch "Männer dazu fähig sind, ein wenig Content zu managen". Sein einziger - "bescheidener" - Akt von Rebellion ist das "Taggen" von Produktabbildungen in Online-Shops mit völlig absurden Schlagworten, was allerdings sehbehinderten Menschen ein Auffinden dieser Produkte erschwert.

Obwohl er sich mit riesigen Kopfhörern ("... wie das schon aussieht?! Du könntest wenigstens AirPods tragen.") davor schützt, von seinen Kolleginnen angesprochen zu werden, beteiligt er sich – als Zeichen des guten Willens – an teambildenden Maßnahmen. Dennoch: "Der Arbeitstag zieht sich wie ein Progressive-Rock-Song. Komplexe Themen, die Gespräche wiederholen sich, jeder will solieren und das Ganze findet kein Ende. Darum habe ich immer schon Punk bevorzugt: Man sagt, was Sache ist, und zieht das Ding nicht unnötig in die Länge." Voller Nostalgie erinnert er sich an seine Jugend auf dem Land, als er als Gitarrist und Sänger einer Punkband mit drei Freunden als "Unruhestifter" und "Widersacher der Stille" in einem alten Van unterwegs zu den "bebühnten Beisln des Landes" war. Mit dieser Band besetzten sie die musikalische Nische zwischen Castingshowopfern, Grunge- und Poprockdeppen, zwischen "Ruhm und Bedeutungslosigkeit", "ohne sich um musikalische Trends zu scheren" und ohne Ambitionen (und wohl auch Chance) auf einen Platz in der Musikindustrie, dem "Schlachthaus unter den künstlerischen Ponyhöfen".

In dieser spießbürgerlichen Tristesse voller Hoffnungslosigkeit und Leere taucht plötzlich Günther auf. Er war Schlagzeuger der Punkband und ist immer noch ein begeisterter Drummer, Flinserl im Ohr, zappelig, motiviert, ein "Haudrauftyp", der nach der Auflösung der Band einen Job im Außendienst einer "halbseidenen Spedition in der Tasche und ein gertenschlankes Ex-Groupie an seiner Seite" hatte und nichts mehr von Musik wissen wollte. Zwischen dem "Rosaroten Rebhuhn für diskriminierungsfreie Werbung" und der Urkunde "Frauen und Technik" steht er plötzlich in der Agentur vor "FX" / Franz-Xaver und schlägt ihm eine Reunion der Band vor. Dieser zögert zunächst, nachdem er aber den traditionellen "Lederhosendonnerstag" im Co-Working-Space völlig versemmelt, zur Strafe im Dirndl mit Kropfband und Lippenstift das radikale Manifest "Tracht oder Prügel?" an ahnungslose Trachtenfreunde verteilen muss und sich den Unmut der Besitzer des Luxus-Trachten-Shops sowie seiner eigenen Chefin zuzieht, sagt er Günther zu.

Beide machen sich nun auf, ihre ehemaligen Gefährten ebenfalls dazu zu bringen, als Vorband der Gruppe "Superschnaps" bei deren aktueller "Schnaps-ist-super" Tour aufzutreten – "Das ist der neue Stern am Punkrockhimmel. Jonny Obstler, Willy Wodka, sagt dir nichts?"

Zunächst führt sie der Weg zu Branko, dem ehemaligen Bassisten, der sich nach dem Ende der Band als Musikproduzent selbstständig gemacht, sich ein Studio in einem alten Bauernhaus eingerichtet hat und nun Schlager produziert: "auftrainiert, braungebrannt, sichtlich gesettelt und erfolgreich". Günther zeigt sich kurz von den vielen Goldenen Schallplatten und dem riesigen Mischpult beeindruckt, bevor seine Verachtung von Brankos Erfolgen auf dem "niedertächtigsten Gebiet, das die Musikindustrie zu bieten hat", zurückkehrt. Branko weiß bereits, worum es geht, er hat für "Superschnaps" ein paar Tracks gemischt und ist selbstverständlich mit von der Partie.

Zu dritt fahren sie zu Hansi, der sich nach dem erfolgreichen Aufbau und späteren Verkauf seines Start-ups ("irgendeine App") ein "goldenes Näschen" verdient hat und ein komfortables Haus im Salzburger Speckgürtel bewohnt. Mit ihm hat alles begonnen, mit ihm gründete FX die "Arbeitsgemeinschaft Punk in der Provinz". Hansi hieß in der Band "Hänsi" "mit Anarchozeichen und zwei Hörnern auf den A", und später K.Lo. als Anspielung auf J.Lo (Jennifer Lopez) und seinen Nachnamen "Klostermann". Hansi, verheiratet, leicht angegraut, "gestresst und ausgelaugt, trotz Home-Office und Swimmingpool" packt seine Sneakersammlung und zieht mit den ehemaligen Bandkollegen los. "Solange es WLAN gebe, könne er überall arbeiten. Jeden Tag in den Pool zu springen sei eh langsam fad geworden." "Pop ist tot" – so der Name der Band – ist wiederauferstanden!

Ab nun beginnt eine wilde Tour quer durchs Land im alten Van, immer im Schlepptau der erfolgreichen, im klimatisierten "Nightliner" cruisenden Band "Superschnaps". Dabei erfährt man allerhand über Punk als Lebensgefühl und musikalisches Bekenntnis, das Erleben von Jugend in der Salzburger Provinz und die meist alkoholgeschwängerten und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den ländlichen Traditionsträgern ("Erfolg bedeutete für uns damals, nicht von der Bühne gebuht, zusammengeschlagen oder von einer Nazi-Bikergang mit Messern bedroht zu werden"), dem Leben und Leiden in einer Band und den zunehmenden, durch Cola-Rot, Zigaretten, schlaflosen Nächten und Lautstärke ausgelösten gesundheitlichen Problemen der alternden Punks. "Wo früher Anarchie war, haben wir heute Nostalgie."

Mehr als das bleibt allerdings nicht vom Versuch, das Lebensgefühl der Jugend, die damalige vermeintliche Freiheit, ein Stück einer in einem spießbürgerlichen (oder gescheiterten) Leben und einer oberflächlichen Gesellschaft abhanden gekommenen Identität durch radikalen Nonkonformismus wiederzufinden. Die anti-kommerzielle, anti-bürgerliche, anarchische Haltung verblasst im musikalischen Selbstversuch von beruflich erfolgreichen und gesellschaftlich etablierten Vierzigjährigen zu einer bloßen Attitüde. Punk wird zu einem Wunschbild, zu einem verlorenen, fernen Paradies, in dem das Individuelle, das Unvermittelte, die eigene Musik und Lebensweise noch realisierbar waren. Anstatt Pogo zu tanzen werden nach dem Auftritt in einer Karaokebar Popsongs zum besten gegeben. Am Ende merkt Franz-Xaver, dass er, wie weit er auch fährt, wie viel er auch zurücklassen will, wieder dort ankommt, von wo er weggefahren ist.

Die Band "Pop ist tot" ist der Versuch, einem angepassten, kommerzialisierten Leben (und der kommerzialisierten Popmusik) das Eigene, Individuelle, Nonkonforme entgegenzusetzen. Sie ist – in der Reunion – der Versuch einer zweiten Rebellion, nachdem die erste jugendliche so grandios gescheitert ist. Aber auch diese zweite endet im Fiasko.

Der Roman "Pop ist tot" ist eine wilde und im besten Sinne unterhaltsame Tour, ein höchst amüsantes Bild krisengeschüttelter männlicher Identitätskonstruktion und ein gescheiterter Versuch einer (Wieder)findung mittels der Musik in der längst vergangenen Jugend. So wie sich Popmusik ursprünglich als Ausdruck einer widerständigen, aufbegehrenden Jugend- und Subkultur zur kommerzialisierten, industriell produzierten Unterhaltungsmusik entwickelt hat, hat Punk sein kritisches Potenzial und seine politischen und sozialen Anliegen verloren, ist vielfach zu einem bloßen Modezitat und zu einem Habitus verkommen. Dieses Lebensgefühl, diese radikale Haltung sich wieder aneignen zu wollen, muss letztlich scheitern, weil die Grundlagen dazu nicht mehr existieren.

Mulitzer lässt zwar durch den Blick des Ich-Erzählers Franz-Xaver (fast) kein Klischee aus, manövriert den Text jedoch geschickt über die sprachlichen Fallen einer allzu saloppen Ausdrucksweise rund um Midlife-Crisis, Popkultur und Road Movie Stereotype. Die Sprache ist bildhaft und griffig, die Figuren mit einer humorvollen Distanz gezeichnet, die jedoch gegen Ende hin etwas abnimmt. Immer mehr bemächtigt sich die Sprache der Figuren auch der Sprache des Autors. Dass dieser als Musiker und Mitglied einer Mundart Punkband fachkundig über Musik zu schreiben weiß, ist in höchstem Maße erfreulich und erzeugt bei Musikfans vielfältige Assoziationen. Den nicht ganz so Musikkundigen, denen Amps und Klinkenstecker nicht geläufig sind, vermag dies auch die eine oder andere Erkenntnis zu bescheren. Dabei blickt Mulitzer hinter die Praktiken der Schlagerindustrie und lässt das oft glorifizierte Musikerleben auf eine auf Gewinn und ökonomischen Erfolg fokussierte Musikbusinesswelt treffen.

"Der Bandname als Zeichen unserer Anti-Kommerz-Einstellung, unseres unbeugsamen Kampfes gegen den miserablen Mainstreammusikgeschmack (...) als Antithese zu den gschissenen Boybands." Pop ist tot - mehr ist dazu wahrlich nicht zu sagen!

Eva Maria Stöckler, 23. 08. 2021

Originalbeitrag
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser/innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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