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Roman.
Wien: Edition Atelier, 2021.
192 Seiten; geb.; Euro 20,-.
ISBN: 978-3-99065-057-8.
Hanno Millesi
Leseprobe
Es ist still geworden im neuen Roman von Hanno Millesi: In der Stadt Z, die, von ihren BewohnerInnen verlassen, zusehends verfällt, um den Protagonisten Lambert, der einmal ein gefeierter Experte seines Fachs war und für Lambert, der, von einem Golfball getroffen, sein Gehör nach und nach verliert.
Was schon unter gewöhnlichen Umständen eine alarmierende Entwicklung wäre, ist für Lambert eine katastrophale. Seine Berufung – von Beruf kann man nicht sprechen, wenn jemand mit Leib und Seele in seiner Tätigkeit aufgeht – ist nämlich das Akustische. Lambert ist ein Geräuschemacher im Ruhestand, jemand, dessen Handwerk es ist, Geräusche etwa für Filme zu imitieren oder gar zu erfinden: Zertretene Styroporplatten klingen wie ein brechendes Rückgrat, ein Flip-Flop richtig angewendet wie der Antrieb eines Raumschiffs. Lamberts Welt besteht aus Tönen: Fassbar, real, ist sie für ihn erst, wenn er sie hört. Der Verlust seines Gehörs stürzt Lambert – oder Bert, wie er in der Branche genannt wird – dementsprechend in eine existentielle Krise: "Funktioniert sein Gehör denn nicht wie ein organischer Verbrennungsmotor, darauf ausgerichtet, akustische Eindrücke in lebensspendende Energie umzuwandeln?" (S. 20, 21) Mit dieser Bedrohung seiner selbst konfrontiert, macht sich Lambert auf den Weg zu seinem ehemaligen Toningenieur Sandip / Sindy, mit dem ihn, bevor klar wurde, dass ihre Kunst eine aussterbende ist, eine beinahe symbiotische Beziehung verband.
Im Gepäck hat der Spaziergänger Lambert eine der "Erweiterungen der eigenen Persönlichkeit" (S. 157): eine antiquarische DX8-80T, ein technisches Relikt aus den Zeiten von 'Sindy & Bert'. Mit diesem Ungetüm in einer Schubkarre begibt er sich nun zielstrebig auf den Weg quer durch die Stadt Z, von der nur noch der Anfangsbuchstabe übriggeblieben ist: Durch eine Umfahrungsstraße obsolet geworden, ist sie verwaist und verströmt eine postapokalyptische Stimmung. Zurückgekommen ist dadurch aber die Ruhe, die nur dort zu erfahren ist, wo früher (Zivilisations-)Lärm war – "Nirgendwo Bau oder Verkehrslärm, keine Presslufthämmer, keine Motoren, die anspringen, kein Getriebe, in dem ein Gang hinauf oder hinunter wandert." (S. 58) Lambert, der sich durch diese neue Geräuschkulisse bewegt, ist ein Außenseiter, aber kein Unglücklicher. Denn angetrieben von dem, was er trotz allem hört, schafft er sich seine eigene Welt.
Der letzte Weg Lamberts mit der DX8 ist freilich eher Mittel zum Zweck. Er führt die Leser/innen nicht nur durch die Reste von Z, sondern auch durch dessen Vergangenheit und durch seinen Kopf. Bald wird dabei aber klar: Lamberts Wahrnehmung der Realität unterscheidet sich von der seiner Umgebung. Durch den Fokus auf das Akustische sind die Dinge für Lambert einfach "anders" (S. 85) – ein Wort, das uns im Roman auffällig oft begegnet. Der Logik des Geräuschemachens entsprechend sind die Wirklichkeit und das dazugehörige Geräusch nicht immer kausal miteinander verbunden, Ursache und Wirkung klaffen auseinander: "In der Welt der künstlich hervorgerufenen Geräusche resultiert die Glaubwürdigkeit nun mal aus einer Reihe von Absurditäten. Sieht man im Film jemanden eine Autotür zuschmeißen, wurde jenseits der Kamera zwar ebenfalls eine zugeschmissen – allerdings nicht, weil sie nicht offen bleiben sollte." (S. 86) – sondern um des Geräusches willen.
Dem Roman vorangestellt ist das Motto "Er aber hörte etwas, das wir nicht hörten.", ein programmatisches Zitat aus Don Quijote. Und Lambert ist natürlich ebenfalls eine Don Quijote-Figur, die, aus der Zeit geworfen, einem hinfällig gewordenen Zauber nacheilt: ein Ritter von trauriger Gestalt. Wie schon bei Cervantes birgt diese Idee auch bei Millesi durchaus eine bittere Komik, wenn etwa die Schubkarre ein Eigenleben entwickelt oder eine einstürzende Brücke in Lamberts Wahrnehmung "sich regelrecht auf[bäumte], als habe sie der Ausnahmezustand in zwei riesige Arme verwandelt, die um Hilfe flehten und gleichzeitig davor warnten" (S. 52). Lambert und Don Quijote sind Menschen, die nach der Entzauberung der Welt übrig bleiben. Wenn bei Don Quijote die Ritterromane und ihre Ideale ihre Gültigkeit verloren haben und von ihm auf seine Weise am Leben erhalten werden, so ist es bei Lambert die Welt des manuellen Geräuschemachens und die damit verbundene Imaginationskraft, die in ihm fortlebt. Eine veraltete Technik, die Wahrnehmung affektiv und jenseits der nüchternen Kalkulation eines Computers ermöglicht: "Ein Computer vermag wie das alles zu klingen, täuschend echt, zum Verwechseln ähnlich, haarscharf daran vorbei oder genau wie früher, und dennoch basiert, was er hervorbringt, auf nichts als Berechnung." (S. 81, 82)
Das Geräuschemachen ist eine Technik, die im Gegensatz zur rationalen Welt des Computers eine Welt voller Zauber, Überraschung und Staunen birgt, wenn auch nur noch für Lambert selbst – und für die LeserInnen dieses Romans: Hanno Millesi entwirft in "Der Charme der langen Wege" ein Außenseiterporträt, das mit viel Sympathie auf sein Objekt blickt, präzise beobachtet und eine Sprache findet, die in ihrer Komplexität und Verzweigtheit ihrem Protagonisten gerecht wird. Millesi verschafft den LeserInnen Zutritt zu einer Welt, die eben anders funktioniert als unsere, und in der sich Kuchenbacken schon mal als geeigneter Soundtrack für den Einsturz einer Brücke entpuppen kann.
Rezension von Johanna Lenhart, 27. 09. 2021
Originalbeitrag
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser/innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.
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