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Alina Lindermuth: Die Wahrscheinlichkeit des Zufalls.

Roman.
Wien: Verlag Text/Rahmen, 2021.
404 Seiten; Softcover; Euro 15,90.
ISBN 978-3-9504916-9-2.

Alina Lindermuth

Leseprobe

Mit nackten Füßen der Morgensonne entgegenlaufende Kinder, frisch geschlüpfte Entenküken, deren flauschige, gelbe Köpfchen an den robusten Anmut von Löwenzahnblüten auf den umliegenden Feldern erinnern, ein von Fridas und Papas Hand gebauter Flaschenzug, mit dessen Hilfe kleine Kinderschätze wie »frische Walnüsse oder eine Handvoll besonderer Steine« bis auf den ganz obersten Ast eines Baums transportiert werden können, dessen Herzstück – nämlich jene Stelle, an der die meisten Äste zusammenlaufen – mit so viel Fantasie aufgeladen ist, dass sogar ein Thron wie aus dem Märchen darin Platz findet. Es sind Bilder einer aus der Vergangenheit herübergetragenen Welt, in der das Kindsein ein behüteter Zustand ist, der nunmehr in der Blase gut verwahrter Erinnerung für alle Zeiten konserviert scheint. Es sind Erzählfragmente, in denen die Stabilität unbeschwerter Kindertage mit ruraler Heimatidylle und konventioneller Rollenaufteilung in Einklang gebracht werden; so ist es auch der aus der Arbeit heimkehrende Vater, der die Entenbabys später vor dem Ertrinken retten und die Mutter, die an ebendiesem Abend das Essen zubereiten wird; dass die kleine Frida als Mädchen im Wald-Lager der Dorfbuben, die dort Krieg spielen, keinen Platz haben darf, ist ein weiteres Vorkommnis in diesem Text, der um Einfachheit bemüht die Ereignisse in unmittelbarer Sprache wiedergibt und dabei, wenn auch unbewusst, traditionelle Geschlechterrollen streift. Wir blicken ins ländliche Kärnten, wir blicken auf den Beginn der Neunzigerjahre, wir blicken in die Kinderseele von Frida, deren Leben hier seinen Anfang nimmt.

Als der Löwenzahn schon zur Pusteblume geworden und deren zartes Geflecht längst von den Winden ferner Kindertage verweht ist, lebt Frida als junge Studentin in Wien. Das Wirtschaftsstudium, dem sie nachgeht, will ihr nicht allzu viel Freude bereiten, das Brot jedoch eines Tages verdient sein und auch der Zukünftige sollte was taugen; auf der Suche nach der sogenannten »Hundert«, wie sie und ihre Freundinnen »den Richtigen« nennen, beschreibt die Autorin das studentische Leben zwischen kess spendierten Weißweinspritzern, unermüdlichem Prüfungsstress, Tinder als geheimer Hoffnungsmaschine und dem immer im Seelengepäck mitgeführten Gefühl der verlorenen Leichtigkeit. Nun beginnt das Wechselspiel der Schauplatz- und Zeitebenen, auf denen das jeweilige Lokalkolorit nicht fehlt und das uns zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Kärnten und Wien hin und her gleiten lässt: kindliche Festung und Pratersauna, Maischtag und Audimax, die Naturarchaik »nackter Felsgipfel über der Baumgrenze« und das Wiener Häusermeer, konstruiert und erbaut von Menschen- und Maschinenhand, der Geschmack von Milchbrötchen auf unbedarften Kinderzungen und jener, den das »Gspusi« von letzter Nacht auf dem Gemüt hinterlässt. Auch die Frage nach der (eigenen) Vergänglichkeit und das plötzliche Verschwinden der Entenkinder lassen die Wände des geschützten Raums von damals bröckeln.

Als Frida, die heimlich Gedichte schreibt und sich gleichzeitig an »Wortfetzenwäldern« zu orientieren sucht, die sich ihr beim raschen Vorbeihuschen mit dem Fahrrad erschließen, wenn die Gespräche anderer häppchenweise an ihr Ohr dringen, als ebendiese Frida Jonas kennenlernt, ist eine Romanze unvermeidbar. Ist diese Begebenheit jedoch von höherer Bestimmung? Die Wahrscheinlichkeit dieses Zufalls ist durchaus gegeben. Jonas dürfte wohl das Zeug für »die Hundert« haben, er spricht von Work-Life-Balance und zeigt großes Interesse an Frida, für die aber plötzlich das Lernen für die Uni von weitaus größerer Bedeutung scheint; und wie von selbst entspinnt sich entlang des Erzählfadens auch noch eine Liebesgeschichte voller Hindernisse und seltsamer Verstrickungen. Aber nicht nur die Sehnsucht nach der Nähe, auch jene nach der Ferne bildet ein Sujet in Alina Lindermuths Roman. Es ist der Großvater, dessen Expeditionen mit der Bergrettung ihn einst in fernöstliche Gegenden führten und der in Frida schon früh die Faszination für die Macht des Erzählens (über die Fremde) schürt. Ein Werk, das für die Protagonistin eine Art Schlüssellektüre bereithält, ist Der Glaspalast von Amitav Ghosh, eine Familiensaga, die die Geschichte Indiens sowie des heutigen Myanmar erzählt; in einem Buch über den Himalaya erfährt die noch sehr junge Frida etwas über eine nepalesische Tradition, Textilien Farbe zu verleihen: »Aus zermahlenen Steinen erzeugen die Frauen im Dorf eine Farbe, mit der sie ihre Kleider einfärben. Jede Farbe hat eine bestimmte Bedeutung und steht für einen Lebensabschnitt.« Deutlich wird hier der Hinweis auf die zwei Lebensabschnitte der Protagonistin, die im übertragenen Sinn auch in unterschiedliche Farben getaucht sind, doch wirken die beiden Erzählstränge etwas willkürlich aneinandergereiht. Die mit einiger Authentizität aus dem Leben gegriffenen Dialoge sparen inhaltliche Tiefe vielleicht bewusst aus und wollen exemplarisch wirken. Wenn man so möchte, lässt sich der Roman als eine Art Coming-of-Age-Geschichte mit autobiografischen Zügen deuten, in der das Schreiben selbst – vielmehr jedoch die Freude am Schreiben – zu einem der Hauptmotive avanciert.

Die Autorin erzählt in Die Wahrscheinlichkeit des Zufalls in einfacher, klarer Sprache und an manchen Stellen mit viel Liebe zum Detail eine Geschichte, in der sich das Leben einer jungen Frau auf der Suche nach dem richtigen Weg, die sie bis in die Straßen Ranguns führt, abbildet. Eine Geschichte, in der die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Zufalls weniger verhandelt als lose und mit neugierigen Kinderaugen in den Raum gestellt wird.

Evelyn Bubich, 29. 09. 2021

Originalbeitrag.
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser/innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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