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Raoul Eisele: einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt.

Gedichte.
Schiler & Mücke, 2021.
Klappenbroschur, 112 Seiten, EUR 16,-.
ISBN 9783899304350.

Raoul Eisele

sehe den Himmel, die Sterne

Der Gedichtband einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt von Raoul Eisele ist überaus vielschichtig und verflicht mehrere Zeitebenen miteinander, was sich beim Lesen erst nach und nach erschließt. Stark vereinfacht kann man sagen, es gibt die Zeitebene der Gegenwart, in der ein Enkelkind versucht, mit dem "BEGINN DES VERFALLS EINES MANNES / IM HOHEN ALTER GANZ JUNG" zurecht zu kommen. Also mit der zunehmenden Gebrechlichkeit, Bettlägerigkeit, Hilflosigkeit und vor allem mit der Demenzerkrankung des Großvaters. Der Blick auf den Großvater ist dabei ein ungemein liebevoller, voller Achtung und immer um die Würde des zunehmend hilfloser werdenden alten Menschen bemüht, was eine schwierige Gratwanderung ist:

wiedermal sei es ein Tag wie ein Tag seit einem Jahr, seit du
dich wundliegst im Bett auf dem Sofa, manchmal im Sessel
da sitzt du nicht gern, da schmerzt dir dein Körper spastisch
und steif; da setzt man dich, sitzt du vorm Fernseher
und schaust auf farblose Bilder, schaust in die Leere, auf
vorbeiziehende Filme, leblos und stumm und nur bei Musik
tränt dir dein Auge, füllt sich dein Blick
als wäre es, wärst du ganz hier, wäre Gegenwart gänzlich
und du hebst deine Hände, hebst, zitterst mit der linken
umschlingend der rechten ellbogengebeugt, als wolltest du tanzen
wolltest um diesen Tanz bitten wie damals, […]

Neben dieser Zeitebene des alten Großvaters gibt es auch noch jene, als der Großvater jung ist und ein Seemann, der sehr persönliche Briefe nach Hause schreibt, da die Geburt der zweiten Tochter ansteht und er selbst nicht anwesend sein kann:

[…] hier bediene ich
mich der Wolken, wenn ich zu euch will, ich sehe nach oben,
sehe alles weich und weiß, alles fließend und blau, ich
wundre mich jeden Tag, wundere mich zu euch – wie nah fühl
ich mich dir, wenn die Wolken in den Wellen wiegen, wenn
sie auf- und niedersteigen, ebbend, flutend mir manchmal
näher, manchmal ferner sind und immer bei euch – lass mich
wissen, wie’s dir geht, wie du zurechtkommst […]

In Folge der zunehmenden Demenzerkrankung vollzieht sich die Trennung von der geliebten Familie in anderer Form gewissermaßen nochmals, auch wenn der Großvater seine Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit nun nicht mehr wortreich artikulieren kann. Kannte er damals den Namen seiner noch nicht geborenen zweiten Tochter noch nicht, ist er im Alter knapp davor, sich nicht mehr an die Namen seiner Töchter zu erinnern.

Es gibt zwei Bewegungen im Band, die eine ist das zunehmende Vergessen, die andere das Aufbegehren dagegen im Erinnern und im Erzählen von Erinnerungen. Während das Verstummen bedrohliches Vergessen bedeutet, ist das gemeinsame Sprechen über Erinnerungen fast schon so etwas wie ein Heilmittel gegen das Vergessen:

und erinnerst du dich an unsere Mutter, meinst
meine Urgroßmutter mütterlicherseits
wie sie am Strand, dieses Foto mit den winzigen Händen
die Libelle von der Düne, die Libellenflügel hob und hauchte

Wie aus den bisherigen Zitaten bereits hervorgeht, ist das "Ich" im Band viele, da es immer wieder zu Perspektivwechseln kommt. Oft geht aus dem Kontext hervor, wer gerade spricht, manchmal bleibt das für uns Lesende aber auch offen.

Der Titel einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt lässt ans Weltall denken und so überrascht es zunächst, dass in den Gedichten Wasser und Meer weitaus präsenter sind. Das kommt eben daher, dass der Großvater ein Seemann war und damit ein Mann des Wassers, der auf hoher See gerade und auf dem Festland schwankenden Schrittes ging, während sein Enkelkind leicht seekrank wird. Daher scheint es nur naheliegend, dass Wasser auch als Metapher für das zunehmende Verstummen herangezogen wird. Auf der einen Seite haben wir den von der Demenz bedingten Sprachverlust des Großvaters, auf der anderen das Verstummen des Enkels in Anbetracht des kranken Großvaters:

das ist hier immer so, unter Wasser
das Versagen der Stimme, das Verstummen
der Kehlen, sie füllen, überflutet von Wellen
von Stränden, ein Stauen der Stimme

Raoul Eisele findet immer wieder eindrückliche Metaphern für das Vergessen und die Krankheit:

während das Vergessen mitwuchs
wuchsen schwarze Flecken im Kopf ganz harmlos
zu anfangs wie Knospen, die sich
in der Blüte deckend über das Erinnern legten
im Kopf ein Feld aus Blumen
ein Feld aus Mohn wie rot
wie schön ist das Vergessen, wenn es blüht

Und auch die schwarzen Löcher lassen sich als Metapher für die Demenz lesen. Diese werden auf einer anderen Ebene nochmals in Form leerer schwarzer Seiten versinnbildlicht. Besonders an diesem Gedichtband ist, dass Form und Inhalt sich darin nicht nur ergänzen, sondern dass Raoul Eisele die Form nutzt, um auszudrücken, was er anders nicht vermitteln könnte. Denn auch auf syntaktischer Ebene kommt es zu Auslassungen, das Verschlucken einzelner Worte ist ein Stilmittel der Gedichte. Es sind Lücken, die man beim Lesen problemlos füllen und daher auch leicht überlesen kann. Diese Lücken mögen unauffällig, aber keineswegs unwichtig sein, verweisen sie doch ebenfalls auf die größer werdenden schwarzen Löcher der Demenz. Im folgenden Beispiel wird das kleine Wörtchen "gibt" in "wo es keins gibt" und später "fließt" in "nur von den Bergen fließt" ausgelassen:

als du mir erstmals vom Meer erzähltest, erzähltest du mir auch
wie man es sehe, selbst von hier, wo es keins, wo Wasser
nur von den Bergen, und du setztest dich, […]

Ein derartiges Verschlucken einzelner Worte kann man auch als Ringen um Worte verstehen, als Ausdruck der Hilflosigkeit angesichts der zunehmenden Demenz des geliebten Großvaters. Rund zehn Seiten später sind die Lücken dann schon größer geworden:

und wenn du mich fragst, welche Tageszeit; mir
die Nächte auf Hoher See immer am liebsten waren

Durch die Demenz geht aber nicht nur vieles verloren, sondern es tritt auch etwas zu Tage, was lange Zeit verschüttet gewesen war: eine traumatische Kindheitserinnerung, über die der Großvater nie zuvor gesprochen hatte. Erst jetzt erzählt er, wie er als Zwölfjähriger Zeuge der Erschießung seines Onkels geworden war:

[…] und erst
als die Demenz, als ein Stadium erreicht war, in dem dein
Langzeitgedächtnis, dein Kurzzeitgedächtnis nicht mehr
vorhanden, begann die Sprache, die versprengte an Terrain
zurückzugewinnen, begann zu sprechen, begannst zu erzählen
ich war erst zwölf, als ich aus dem Wald an meinen ersten
Toten herantrat, war wie erstarrt, wie ungerührt, ein Kind
in Soldatenmanier

Der ganze Band fokussiert stark auf zwischenmenschliche Beziehungen. Einmal zwischen Großvater und Großmutter, als diese noch junge Eltern sind, "dokumentiert" in den Briefen des Großvaters an die Großmutter. Dann zwischen Großvater und Enkel, erschwert durch die Erkrankung des Großvaters. Freundschaft wird ebenfalls thematisiert, etwa im titelgebenden Gedicht. Das Zählen der schwarzen Löcher wird darin erklärt als der Blick durch den Boden leergetrunkener Bierflaschen:

einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt
jedenfalls redeten wir uns das ein
und immer wieder ein leerer Blick durch die
Flaschenböden, das Zerrspiegelspiel und ein Zwischenschluck
ein Aufstoßen gehopfter Worte

Und auch um Liebesbeziehungen geht es in so manchem der Gedichte:

[…] und das Lächeln, deine
Zärtlichkeit, welche sich über mich, sich an mich schmiegt wie
blütenblätternd bewachsen, spüre langsames Erwachen
faltenverflogen und dich, die mir in den Morgenmantel hilft

Spät im Band kommt noch eine weitere Auslegung des Titels hinzu. Nun sind die schwarzen Löcher, die abgezählt worden sind, die Muttermale auf der Haut eines geliebten Menschen:

wenn ich daran denke, wie ich sie zählte, deine
Muttermale wie Sterne, wie Galaxien auf deiner Haut

Trotz der Demenz-Thematik ist einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt überhaupt kein trostloses Buch, sondern eines, das sich zum Leben bekennt und es in all seinen Facetten und Herausforderungen zeigt.

Astrid Nischkauer, 08.11.2021

Originalbeitrag.
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser/innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

 

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