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Friedrich Hahn: Liebe stört.

Roman.
Wien: Der Apfel 2021.
117 Seiten; broschiert; EUR 19,80.
ISBN 978-3-85450-134-3.

Friedrich Hahn

Verlag der Apfel

Die besten Erzähler sind jene, die am Sterbebett liegen. Sie brauchen niemanden mehr zu beeindrucken und nichts mehr zu schönen. Sie können das Leben abrechnen, auch wenn sie es oft falsch boniert haben.
Friedrich Hahn erzählt aus einer verrückt-frechen Position heraus. Sein Ich-Erzähler ist gerade gestorben und räsoniert "zum Ausgeistern" über sein Leben und wie das so ist, bis der Leichnam endgültig entsorgt ist. Sein letzter Satz heißt "Liebe stört" und ist offensichtlich wohl vorbereitet, wie alle diese berühmten Sätze von "mehr Licht" bis hin zu "mehr nicht".
Dieser Satz trifft natürlich die Angehörigen, aber als sie nachdenken, müssen sie dem Verblichenen rechtgeben. Die Phänomen Familie ist nämlich ein Erzählkonstrukt, das mit interessanten Spielzügen der Zuneigung ausgestattet ist. Das gilt für das echte Leben genauso wie für die fiktionale Welt.
Der Ich-Erzähler Florian hat sich eines Tages Mick nennen lassen und eine zufällige Familie um sich geschart, vielleicht ist er auch dazugestoßen. Zwischen aktivem und passivem Part gibt es in Beziehungsangelegenheiten oft keinen Unterschied. Zu Mick sind jedenfalls Anastasia und deren Hilfssohn Maurice gestoßen, dessen leibliche Mutter Tamara sich vertschüsst hat. Was die Trauer betrifft, hat es sich aber um eine innige Beziehung gehandelt, das zeigt sich oft erst, wenn die Hinterbliebenen die im Tod aufgelösten Bande analysieren.
Während die Pfleger den Erzähler als Leichnam abholen, er ist gerade im AKH gestorben, blättern die Angehörigen in den Büchern am Nachtkästchen, immerhin hat er nach einem Schlaganfall noch halbwegs lesen können.
In den folgenden Kapiteln schwebt der Erzähler als Geist zu den Schauplätzen seiner Beseitigung, für die äußere Vermessung der hinterlassenen Welt nimmt er eine Drohnenposition ein, für intimere Geschichten muss er manchmal durch ein Schlüsselloch schlüpfen wie ein dünnes Gas, um sich dann wieder zu entfalten, oder einfach "abzuhängen", wenn er von einer Zimmerecke aus die Geschehnisse beäugt.
In der Hauptsache geht es um den Kontrast Erzählung versus Erinnerung, der den toten Ich-Erzähler bewegt. Das Leben ist endgültig zu einem Film geworden, der als Endlosschleife vorbeizieht. Wenigstens ist die Kamera dieses Erinnerungsstreams gut verpixelt, sodass die Bilder klar sind, an entscheidenden Punkten ist sogar das Datum eingeblendet.
Das sogenannte "Abschweifen" bewährt sich nicht nur außerhalb des Körpers, wenn man zuschaut, wie hilflos die Angehörigen einen Sarg aussuchen und den Geschmack des Inliegenden treffen wollen, auch die Einbettung in die neue Liege ist recht amüsant zu beobachten, und ein Flug über den Postkasten zeigt Anastasia, wie sie gerade die Post ausleert, wonach der Verstorbene eine Kreuzfahrt für zwei Personen gewonnen hat. Irgendwie schade, denkt sich der entmaterialisierte Erzähler und schweift ab in eine Gesundheitsanlage, wo zwischen medizinischen Geräten und Fitness-Parcours allerhand derangierte Körperinsassen versuchen, mit dem Körper in Einklang zu kommen.
Abschweifung bedeutet aber auch, das Leben in losen Kreisbewegungen abzuscannen, die Kindheit, die Verwandten, die unglücklichen Liebschaften, das emsige Treiben in diversen Berufswelten, den Schlaganfall, das Auftauchen einer neuen Lebensform in einer losen
Wohngemeinschaft.
Alles ist während des rotierenden Blicks in die Vergangenheit gleich richtig oder falsch, die Begebenheiten sind Teil eines größeren Musters, dem es wiederum egal ist, wie es an den einzelnen Ecken und Enden ausschaut. Eine coole Friedfertigkeit legt sich über die eigene Historie und gibt vielleicht einen Hinweis, wie der berüchtigte letzte Satz zu lesen sei.
Wenn es zum Sterben kommt, stört die Liebe tatsächlich, denn sie macht bloß alle kirre und hilflos. Wo keine Bindungen sind, müssen keine Verbindungen gekappt werden. Das gilt für diese Liebe im engeren Sinn, wie sie den Menschen zugeschrieben wird, es gilt aber auch für die Liebe zur Kunst, insbesondere zur Literatur.
Der Erzähler verabschiedet sich quasi vom gelesenen Stoff und steigt seltsam verklärt aus dem Literaturbetrieb aus.
"Mein letzter Gang" stellt der Erzähler fest, als die Trauergemeinde in Richtung Friedhof unterwegs ist. Hilfssohn Maurice hält eine trockene Rede, worin er das Leben des Solitärs Mick ein wenig paraphrasiert und letztlich den richtigen Ton trifft. Der schwebende Geist Micks nämlich ist zufrieden mit der Rede und dem darin geschilderten Leben. Den finalen Ausflug auf das Kreuzfahrtschiff, den er ja zu Lebzeiten gewonnen hat, wird er wegen Kitsch-Gefahr stornieren.
Als Leser ist man von diesem Roman auf mehreren Ebenen hingerissen und lässt sich von seiner Botschaft überzeugen. Spätestens wenn es einmal aus ist, ist alles halb so schlimm.
Liebe, Trauer und Schmerz spürt man nicht mehr, und die grafische Gestaltung eines Lebensfilmes ist überzeugend. Auch die eingestellte Lektüre ist kein Thema mehr. Mit dem Tod hat jeder genug gelesen und ist satt.
Friedrich Hahn erzählt voller Feuer, Verve und Rumor, wie das Leben schlussendlich still in sich zusammenfällt und die Asche sich durch nichts mehr stören lässt, auch von der Liebe nicht. – Das muss man sich erst einmal geben, um es dann irgendwie wegstecken zu können.

Gastbeitrag von Helmuth Schönauer,
zuerst veröffentlicht in: GEGENWARTSLITERATUR

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