Dankesrede von Christoph Hein für die Zuerkennung des ersten Erich-Fried-Preises durch den alleinigen Juror Hans Mayer. Wien, 6. Mai 1990.
Auszeichnungen dienen dem menschlichen Zusammenleben und der Kommunikation untereinander, man kennt das aus der Geschäftswelt. Das ausgestellte Stück wird mit einer beigefügten Karte oder Tafel ausgezeichnet, damit sich der Interessent über die Herkunft des derart beschriebenen informieren kann, über seine Zusammensetzung, seine Eigenschaften und seinen Wert. Auszeichnungen sind Kennzeichnungen, die wir benötigen. Der Laie vertraut den Wertungen eines Fachmanns, da er dem eigenen Urteil nicht traut, nicht trauen kann. Es herrscht Arbeitsteilung. Der Textilfachmann muß den Spezialisten für Autos beraten, wenn sich dieser einen Mantel kauft, und dieser verläßt sich auf die Auskunft von jenem, wenn es um die Anschaffung eines neuen Mobils handelt. Eine Auszeichnung ist ein Etikett. Im marktwirtschaftlich günstigsten Fall gerät die Auszeichnung zur Werbung: dann haben wir einen vertrauenerweckenden Markennamen, und die Auszeichnung bleibt nicht auf eine angehängte Karte beschränkt, sondern wird schmückender und bezeichnender Bestandteil der Ware.
Auch andere Bereiche unserer Welt kennen diese Auszeichnungen zum Zwecke der Kennzeichnung. Der Staatsschutz will darauf so wenig verzichten wie die Astronomie oder auch die Literaturkunde. Auch hier werden Herkunft, Bestandteile und Eigenschaften ermittelt, werden Größenordnungen und Wertbestimmungen festgelegt, die sowohl die Arbeit wie den raschen Zugriff erleichtern sollen. Aus diesen ordnenden Werten lassen sich dann sogar Berechnungen und Spekulationen über den künftigen Weg anstellen. Die Wissenschaft, der Markt und auch die Polizei wollen vor Überraschungen möglichst sicher sein.
Literaturpreise sind zweifellos Auszeichnungen, allerdings kennzeichnen sie die Ausgezeichneten nur sehr mangelhaft. Es sind lobend gemeinte Würdigungen der Arbeit eines Autors, aber die Kennzeichnung ist notwendigerweise höchst ungenau. Die Auszeichnungen sind gewöhnlich überdimensioniert, übertrieben. Die Auszeichnungen erfolgen zumeist im Namen von Personen, die inzwischen nicht nur unstrittig, sondern unerreichbar sind. Preisträger, die im Namen von Dante oder Shakespeare, von Goethe oder Büchner ausgezeichnet wurden, können ein Lied davon singen und haben es gesungen. Man beabsichtigt, einen Autor auszuzeichnen, zu kennzeichnen und wählt ehrenhalber einen großen, einen übergroßen Namen. Eine freundliche Geste mit einem paradoxen Effekt: man vergleicht zwei inkommensurable Größen miteinander und stellt damit überdeutlich das Mißverhältnis aus. Die geplante Würdigung gerät zur unbeabsichtigten Denunziation. Der so Geehrte, im falschen Licht stehend, wird, für alle sichtbar, auf seine tatsächliche Größe und Blöße reduziert. Das Publikum, eben noch bereit, den Geehrten zu feiern, kann die Peinlichkeit nicht weiter übersehen und fühlt sich düpiert. Verlegen geht man auseinander, getröstet allein von dem Gedanken, daß dem Preisträger mit dem Preis und seinem Namenspatron ein schweres und niederdrückendes Gewicht angehängt wurde, das ihn wohl Zeit seines Lebens vor Hochmut und Hybris bewahrt. Und der also gleichermaßen Geehrte und Geächtete fühlt sich ausgezeichnet und gezeichnet.
Bauchschmerzen eines Laureaten.
Der Mann, in dessen Schatten er hier steht, heißt Erich Fried. Ein Lyriker, ein Erzähler, ein Essayist, ein Übersetzer, ein Redner, ein politischer Mensch. Seine Arbeit war öffentlich wie die eines jeden Autors, aber Fried machte auch sein Leben zu seiner öffentlichen Arbeit, was ungewöhnlich ist und in der radikalen Haltung an einen Georg Büchner erinnert. Hoffnungen und Zweifel kennzeichnen ihn und seine Arbeit, aber diese Kennzeichen teilt er wohl mit der ganzen Menschheit. doch er war auch unverzagt, unerschrocken und unbelehrbar.
Wirklich erschrocken kann wohl nur der sein, dessen Leben von dem Schrecken geprägt wurde. Für einen deutschsprachigen Juden, der Wien 1938 als junger Mann verlassen mußte, die Stadt noch verlassen konnte, blieb dieser Schrecken lebenslänglich. Vielleicht war er daher so unerschrocken.
Und unverzagt sein, das heißt, den Zweifel zu kennen und das Scheitern aller Hoffnungen erlebt zu haben, um dann - nach diesem erlebten Tod - weiterzuleben. Unbelehrbar hoffend. In einem Gedicht, es heißt "Lebenslauf", nach Hölderlin, ist diese seine Lehre der Unbelehrbarkeit beschrieben:
Abwärts beugte mein Geist sich, aber die Liebe zog
Schön ihn zur Höhe, das Leid hob ihn gewaltiger.
So durchlauf ich des Lebens
Bogen und kehre nie mehr, woher ich kam.
Unbelehrbar sein, das ist , denke ich, eine Pflicht des Intellektuellen und des Schriftstellers. Unbelehrbar sein, darüber ist zu reden.
Ich komme aus der DDR, aus der Deutschen Demokratischen Republik. Und ich befinde mich in der merkwürdigen Situation, nicht zu wissen, ob ich, dorthin zurückkehrend, in die DDR zurückkehre. Es kann passieren, daß ich, das Flugzeug besteigend, von der Stewardeß eine Zeitung gereicht bekomme, in der mir vermeldet wird, den Staat DDR gibt es nicht mehr. Ausgereist mit einem DDR-Paß könnte ich dann auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld zurückgewiesen werden. In der Hand einen nirgends mehr akzeptierten Paß eines nicht mehr existierenden Staates wäre ich dann staatenlos, ein Zustand, der - wir sind aus Schicksalen belehrt - Traum und Alptraum zugleich ist.
Ein Staat, sogar ein System von Staaten geht in diesen Jahren und Monaten zu Ende, das für die einen ein Schreckens- und Terrorregime darstellt, für andere die einzige Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft war, und für noch andere die mißratene Hoffnung auf eine menschlichere Gesellschaft, ein Weg, der ein Ausweg sein sollte, aber von Beginn an in eine falsche, in eine grundsätzlich falsche Richtung führte.
Für alle jene, für die die sogenannten Staatshandelsländer oder sozialistischen Länder, für die der real existierende Sozialismus allein ein Terrorregime darstellt, und für jene, die in dem gleichen System die einzig tatsächliche Alternative zur alten Welt sahen und sehen, sind die heutigen Vorgänge am einfachsten zu fassen und zu werten. Sie können den Sieg des Kapitalismus konstatieren, freudig oder entsetzt, sie können ein Ende feststellen, das Ende eines fatalen und verbrecherischen Irrwegs oder das Ende einer sozialistischen Alternative. Und beide Seiten sprechen sogar von einem "Ende der Geschichte".
Der sogenannte real existierende Sozialismus war, gemessen an den Vorstellungen, an den eigenen Maßstäben des Mythos Sozialismus, eine Karikatur, ein Verbrechen und ein Betrug. Schon die erklärte Einschränkung - realexistierend - war ein Eingeständnis dieses Betrugs, ein Offenbarungseid, der jeden Kritiker daran hindern sollte, die Realität am Entwurf und Anspruch zu messen. Der Mythos, die Vision - im Urchristentum wurzelnd und im 19. Jahrhundert vor allem von Marx in der Sprache der politischen Ökonomie formuliert - wurde mit diesem Betrug und Verbrechen nachhaltig geschädigt und vermutlich anhaltend. Die Mißgeburt kränkt die Schöpfung, der Statthalter Gottes irritiert unseren Glauben an Gott, der ungenießbare Braten mindert den Wert der vorzüglichen Speisekarte erheblich.
Mit dem Erscheinen Stalins geriet das System auf jenen Weg, der seine Zukunftslosigkeit, sein Scheitern absehbar machte. Die später hinzukommenden Staaten waren vom sowjetischen System des Stalinismus geformt und bestimmt und bildeten insofern und eingestandenerweise keine Modifizierungen oder gar Alternativen zum stalinistischen Sozialismus, sondern waren pure Erweiterungen des einen Systems und dadurch mit dem gleichen Makel behaftet und der gleichen Aussichtslosigkeit. Der Stalinismus war nicht an die Person Stalins gebunden, jedenfalls nicht in der Art, daß ohne die Person Stalin die Deformierung ausgeblieben wäre. Auch die damals reale Alternative Trotzki hätte die gleiche oder vergleichbare Gesellschaftsform gebracht, die wir als Stalinismus bezeichnen. Psychohistorie trübt den Blick auf die Geschichte. Die Erfindung der Schreibmaschine war nicht an den Erfinder der Schreibmaschine gebunden, die Personen der Geschichte sind sowohl einzigartige und unverwechselbare Persönlichkeiten wie austauschbare Medien der Zeitgeschichte. Mit dem Namen Stalin bezeichnen wir mehr als eine Person, mit dem Wort Stalinismus versuchen wir, ein Herrschaftssystem und ein Gesellschaftskonzept zu fassen, das nicht allein auf die Sowjetunion beschränkt ist, das nicht einmal zu begrenzen ist auf die Länder des real existierenden Sozialismus.
Möglich ist es, die Fehlentwicklung viel früher anzusetzen, mit Lenin beispielsweise, mit der Revolution im Oktober oder im Februar 1917. Man kann auch in 19. und 18. Jahrhundert zurückgehen, möglicherweise bis zu dem Ideengut des Urchristentums, der Bergpredigt. Für all dies wären Gründe und Beweise zu finden, denn Geschichte ist immer ein Knäuel stattfindender Ereignisse, das vermittels unendlich vieler Wurzeln mit der gesamten Vorgeschichte verbunden ist. Die Bedeutung der Stadt Wien im heutigen Europa beispielsweise wäre für jeden Gymnasiasten ohne weiteres aus dem Fall der Stadt Konstantinopel im Jahr 1453 herzuleiten. Bei buchhalterischer Archivierung löst sich Geschichte in Determinismus auf, selbst die doppelte Buchführung kann nicht die Fülle von Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen erfassen. Die Methoden der Astrophysik, deren sie sich bedient, um die Ausdehnung des Weltalls zu beschreiben, scheinen mir tauglichere Verfahren zu sein für eine Chronik der Geschichte. (Nebenbei gesagt: eben diese schwer benennbaren Zwischenzustände bilden eine der Existenzberechtigungen der Kunst; nur sie vermag etwas von dem Dazwischen zu vermelden, was der Wissenschaft und der Buchhaltung als nicht fixierbare Symptome der Unschärfe entgehen muß.)
Wo die Fehlentwicklung auch angesetzt wird, dies ist abhängig vom Blickwinkel und der Weltsicht des Betrachters und erzählt uns daher mehr über ihn selbst und seine Haltung als über den Verlauf der Geschichte. Geschichtsdarstellungen erfolgen in unserer Welt ohnehin stets im Stil von Gerichtsverhandlungen: Staatsanwalt, Verteidiger und Richter erläutern ihre logischen und in sich stimmigen Systeme, und die gefällten Urteile am Ende der Ausführungen entsprechen den Erwartungen, die das Publikum nach Kenntnis der Rollenverteilung und Standorte im Bericht bereits hegte.
Die Frage, ob das sowjetische System reformierbar war, ist letztlich nicht oder nur spekulativ beantwortbar. Für mich hatte es einen Abschluß im August 1968 erreicht, als die Panzer der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag einrollten und jene Reform, die für uns mit dem Namen Dubcek verbunden ist, beendeten. Die Gorbatschowsche Reform kommt offensichtlich zu spät. Sie war überfällig und bewirkte Veränderungen, die von den betroffenen Völkern lebhaft begrüßt, aber nur noch angenommen wurden, um sie nahezu gleichzeitig zu überschreiten, abzutun, hinter sich zu lassen. Es war und ist eine Reform, die ein Zwischenstadium ermöglichte, das sofort wieder verlassen wurde. Die Reform kam und kommt zu spät. Die gesellschaftliche Entwicklung ist bereits darüber hinweggegangen. Der innere Zustand der Gesellschaft war bereits fortgeschrittener, als die äußere Verkrustung erkennen ließ. Der tatsächliche Zustand, der noch weit in die Vergangenheit wies, entsprach nur noch den äußeren Tatsachen. Die heftigen Veränderungen, die rasch die auslösende Reform beiseite schoben, verweisen auf einen längst erreichten Zustand der Gesellschaften, für den es vor der Reform und noch vor Jahresfrist keine tatsächliche Entsprechung gab. Dieser wird jetzt umso radikaler eingeklagt und erorbert. Der Vierzigjährige, der endlich das Kinderzimmer verlassen kann, verläßt es mit anderen Schritten und völlig anderen Zielen als der Vierzehnjährige. Das zu registrierende Mißverhalten liegt im früheren Mißverhältnis begründet.
Vielleicht war dieses System nicht reformierbar. Vielleicht war auch der Prager Frühling eine trügende Hoffnung. Dafür spricht das Argument, daß ein falscher Weg zwar immer zu wichtigen Wegscheidungen führt, aber alle Wege, die von einem falschen Weg abzweigen, müssen notwendigerweise ebenfalls in eine falsche Richtung führen, da ihr Ausgangspunkt - der ursprünglich eingeschlagene Weg - bereits in diese (falsche) Richtung weist. Dagegen spricht allerdings die Reform selbst, anderenfalls müssen wir das Wort aus dem Vokabular sinnvoller Begriffe streichen, denn dann wäre jede Reform nur ein untauglicher, zum Scheitern verurteilter Versuch, einen kranken oder unheilbaren Zustand grundsätzlich zu bessern.
Die Antwort bleibt also spekulativ, was angesichts des zu konstatierenden Schlußpunktes wohl zu verschmerzen ist.
In jedem Fall ist das mit den Gorbatschowschen Reformen eingeleitete Ende von Feinden und Reformern des Systems vorbehaltslos zu begrüßen. Denn nicht nur der Gegner, auch der Reformer hat gesiegt. Was sich als nicht reformierbar erweist, werden auch die Reformer lieber abschaffen als erhalten wollen. Mit welchen Zielen eine Reform auch immer beginnt, auch wo sie erfolgreich und in der erwünschten Bahn verläuft, soll sie einen hoffnungslosen Zustand beenden. Die gescheiterte Reform wird, so es ihr nicht allein um den Machterhalt geht, mit ihrem eigenen Scheitern auch das Scheitern des Nicht-Reformierbaren anstreben. Denn die alte Hoffnungslosigkeit wird nach dem Scheitern des Versuchs einer Reform weder annehmbarer noch erstrebenswerter noch erträglicher, im Gegenteil. Dann blüht Hoffnung allein aus dem Grab, und um der Zukunft willen wird auch der Reformer die Grablegung aufrichtig begrüßen. Erst mit dem Tod eines todeswütigen Systems können sei
ne Vorstellungen von einer menschlicheren Gesellschaft aufblühen und wiedergeboren werden. Tod und Auferstehung müssen ihm in jedem Fall erstrebenswerter sein als die weitere künstliche Beatmung einer Leiche. Zwischen einem endlosen, alles lähmenden Sterben und dem Tod und der Wiedergeburt ist nicht zu wählen. Auch Gorbatschow wird, wenn er dem Gesetz, nach dem er antrat, verpflichtet bleibt und verpflichtet bleiben darf, nicht anders entscheiden können und nicht anders entscheiden wollen.
Das sowjetische System scheiterte und mußte scheitern, die Gründe dafür sind natürlich vielfältig, aber ich denke, daß es einen zentralen, vielleicht den zentralen Punkt für das Scheitern gibt.
Stalin und der Stalinismus allein sind unzureichende Gründe, denn das Scheitern wurde erst in dem Moment evident und unabweislich, als eben diese Deformation beendet wird. Wäre der Stalinismus die einzige Krankheit, das einzige Übel des sowjetischen Systems, befände es sich jetzt - nach der radikalen Abrechnung mit dem Stalinismus - auf dem Weg der Genesung.
Einzuwenden ist, daß bei einer kriminellen Vergangenheit eines Systems die Mittel derart unheilig waren, daß sie selbst einen heiligen Zweck unwiederbringlich zerstören. Dieser Einwand ist aus jeder Ethik abzuleiten, keine Morallehre wird auf eine solche Satzung verzichten. Die Geschichte allerdings lehrt uns anderes, sie verzeiht dem gewandelten Paulus den mörderischen Saulus, sie setzt auf den Erfolg und den Sieger und ist bereit, beide aus der Verantwortung für das entsetzliche Gestern zu entlassen. Wenn die Geschichtsschreibung die Moral kennt, die Geschichte selbst setzt auf andere Werte.
Der Zerfall eines Systems, bewirkt durch einen moralischen Krebsschaden, kann den Moralisten und Humanisten in uns befriedigen, unsere Erfahrungen mit der Geschichte lehren uns anderes, verweisen auf andere Geschütze, die eine Niederlage oder einen Zerfall bewirken, als das moralische Gesetz.
Ich denke, die zentrale Ursache für den Zusammenbruch, die Selbstzerstörung des sowjetischen Systems in der Sowjetunion und in den mit ihr verbundenen Staaten war das fehlende Leistungsprinzip. Dieses Prinzip wurde im Verlauf der Geschichte dieses Systems mehrfach beschränkt und verletzt und letztlich zerstört. Das Fehlen eines Leistungsprinzips führte nicht allein zum Ruin der Wirtschaft, auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft führte das reduzierte und mißachtete Leistungsprinzip zur Selbstzerstörung der entsprechenden Funktionen. Das Leistungsprinzip ist nicht allein auf seine wirtschaftliche Bedeutung zu begrenzen, es hat nicht nur ökonomische Wirkung. Es ist das Prinzip des Wettbewerbs, für das wir im nicht-ökonomischen Sektor gewöhnlich die Worte Demokratie und Öffentlichkeit benutzen. Da das gleiche Prinzip nicht eingeschränkt zur Wirkung kommen kann - beschränkt etwa auf die Volkswirtschaft - mußte der wirtschaftlichen Reform in der Sowjetunion (dem Umbau, der Perestroika) die Einführung des Leistungsprinzips in der Gesamtgesellschaft folgen, also die Demokratisierung des gesamten Lebens, die Herstellung von Öffentlichkeit, Glasnost.
Das weltweit erfolgreichste Kriterium für die Durchsetzung des Leistungsprinzips ist der Markt. Freilich, auch er ist kein unstrittiges Kriterium, denn das Leistungsprinzip bevorteilt den Seller und mehr noch den Bestseller und benachteiligt sämtliche anderen Werte. Den Gewinn macht der Rüstungsfabrikant, der Umweltschützer hat sich auch beständig vor dem eigenen Ruin zu schützen, der Ramsch triumphiert auf dem Markt und läßt die Kunst verkümmern. Hier muß ein regulierender Eingriff erfolgen, weshalb auch viele der marktorientierten Gesellschaften auf konterkarierende Maßnahmen nicht verzichten.
Das fehlende Leistungsprinzip in den Ländern des sogenannten real existierenden Sozialismus hat diesen endgültig zerstört. Ohne dieses Prinzip kann keine Gesellschaftsform existieren, überleben und sich entwickeln. Die Ansätze, die es in den Ostblockländern gab, beginnend Anfang der 20er Jahre in der Sowjetunion und fortgesetzt in den folgenden Jahrzehnten auch in Ungarn, der CSSR, in Polen und der DDR, wurden stets administrativ unterbrochen und zerstört, da sie indirekt auch stets einen Angriff auf das Einparteiensystem, auf das Primat der Politik über die Wirtschaft, auf die Bürokratie darstellten. Die Frage, ob es ein Leistungsprinzip jenseits des kapitalistischen Marktes gibt oder geben könnte, ist daher nur spekulativ zu beantworten und erfolgt üblicherweise gemäß der eigenen wirtschaftspolitischen Anschauungen. In den Ländern des real existierenden Sozialismus, in denen der Sozialismus real nicht existierte, gab es kein Leistungsprinzip. Eine gültige Antwort auf diese Frage ist derzeit aus diesem Weltteil nicht zu erwarten, dort wird nach ihr in der nächsten Zeit gewiß nicht mehr gesucht.
Und wenn der letzte Versuch, die Reform Gorbatschows, die Erich Fried so heftig begrüßte, weil er so lange auf sie gewartet hatte, auch scheitert, dann nicht, weil diese Reform halbherzig erfolgt, sondern weil sie zu spät kam. Ich denke, daß im August 1968 das Schicksal der Ostblockländer auf dem Prager Wenzelsplatz entschieden wurde. Auch dort wurde der Versuch, ein Leistungsprinzip in einem sogenannten sozialistischen Land einzuführen, zerstört. Es war ein wiederholter gewaltsamer Eingriff, um den Einparteienstaat und die Bürokratie vor einem leistungsorientierten, erfolgreichen Sozialismus zu schützen. Und es war, wie ich denke, der letzte Versuch, der noch eine wirkliche Chance auf Erfolg hatte.
Gorbatschows Reform, in allen Ländern des Ostblocks eben noch enthusiastisch gefeiert, wurde in den gleichen Ländern ebenso rasch wieder abgewehrt. Der Reformer aus Moskau wurde begrüßt und genutzt, um rasch zu jener äußeren Form der Gesellschaft zu kommen, die dem tatsächlichen, aber noch nicht artikulierten inneren Zustand der Gesellschaft entspricht.
Das Wort vom "Ende der Geschichte" geistert nun durch die Welt, ein Wort des Triumphs, aber auch ein Wort vom Ende. Denn ein Ende der Geschichte ist ohne ein Weltende nicht zu haben. Ich komme aus einem Land, das jahrzehntelang gleichfans das Ende der Geschichte verkündete. Die übliche Formel dafür hieß: wir sind die Sieger der Geschichte. Auch hier wurde ein "Ende der Geschichte" verkündet, und es gab schließlich auch das Ende einer Geschichte, wenn es auch anders ausfiel, als es eben diese "Sieger der Geschichte" meinten und erwarteten.
Nichts ist fataler für einen Staat wie für eine Gesellschaft und Wirtschaftsform, als sich endgültig einzurichten. Wer sich auf dem Platz des Siegers niederläßt, wird ihn als Verlierer verlassen. Die Geschichte liebt Ironie. Und aus dem gleichen Grund setzt sie nun auf den Verlierer. Der Verlust bedeutet künftigen Gewinn, das weiß nicht nur der Philosoph, auch der Wirtschaftsfachmann kennt die belebende Wirkung des Ruins. Dieser Ruin ist nie angestrebt und wird gefürchtet, aber ist er eingetreten, befördert er eine grundsätzliche Renaissance nachhaltiger als der Erfolg. Die Geschichte, sagte ich, kennt keine Moral und liebt die unerwartete Wendung. Wer von den "Siegern der Geschichte" oder vom "Ende der Geschichte" oder anderen Endgültigkeiten allzu laut redet, überhört vielleicht, daß die Geschichte bereits wieder kichert. Denn der Zug der Geschichte ist nicht angekommen und nicht abgefahren, er bewegt sich unentwegt und durchaus nicht auf der Stelle.
Uns auf dieser Welt endgültig einzurichten, ist uns allein auf dem Friedhof erlaubt. Ansonsten, solange wir diesem endgültigen Frieden noch das Leben vorziehen, sollten wir unsere Niederlagen nutzen und uns bei gelegentlichen Siegen nicht zu lange aufhalten. Wir sollten es lernen, unbelehrbar zu sein, denn das gebrannte Kind, das das Feuer scheut, wird das Eisen im Feuer nicht schmieden. Wir sollten unbelehrbar sein, Erich Fried nennt es: Mißtrauen lernen.
In meinem Land wurde in den letzten Monaten viel erreicht, unvorstellbar viel, unvorstellbar noch vor einem Jahr. Dieser Sieg sollte keinen einschläfern oder unbesorgt machen. Mißtrauen lernen und unbelehrbar bleiben ist tagesnotwendig, auch wenn die Bekundungen von Politikern und Medien heute anderes verkünden. Auch vor dem Oktober 1989 gab es in meinem Land beruhigende Bekundungen der Politiker und Medien, denen wir zu Recht mißtrauten. Und dieser Teil der Arbeit ist noch nicht vorbei. In seinen Erinnerungen schreibt Fried über eine Erfahrung mit Tucholsky, mit jenem Mann, der in diesem Jahr einhundert Jahre alt geworden wäre. Ich will diese Erfahrung zitieren, um zu verdeutlichen, was ich mit dem Wort unbelehrbar meine, was ich meine, wenn ich von unserer aktuellen Aufgabe spreche, und um anzudeuten, warum Erich Fried, seine Haltung und seine Arbeit für mich beispielhaft sind.
"Ich weiß noch", schrieb Fried, "wie erschüttert ich war, als ich seinen (Tucholskys) bitteren Brief an Arnold Zweig las, eine Art Abschiedsbrief, geschrieben eine Woche vor seinem Tod. Die Schicksale dieses Briefes haben mich später das Mißtrauen gelehrt."
Ich las ihn in der Weltbühne, die aber nun im Exil erschien, als Neue Weltbühne unter einem neuen Redakteur, nicht mehr Ossietzkys oder Tucholskys alte Weltbühne. - Ein Einleitungssatz der Redaktion war mir schon damals unangenehm: "In verzweifelter Stimmung hat Tucholsky manches schroff, überschroff formuliert. Ein privater Briefwechsel enthält oft für die öffentliche Diskussion ungeeignete Wendungen, und so mußte dieser Brief an mehreren Stellen gekürzt werden."
War das eine Art Zensur, fragte ich mich. Was für ein Eingriff in eine gar nicht privat gemeinte Briefstelle es wirklich war, das erfuhr ich erst Jahre später, nach dem Krieg. Tucholsky hatte nämlich geschrieben: "Man muß von vorn anfangen, nicht auf diesen lächerlichen Stalin hören, der seine Leute verrät . . . " Das hatte die Neue Weltbühne damals unterschlagen, das Verraten ebenso, wie daß Tucholsky Stalin lächerlich fand.
Jetzt, in der Bundesrepublik, gibt es einen Tucholsky-Bildband in der Rowohlt-Taschenbibliothek. "In Selbstzeugnissen", heißt es. Der verschweigt Tucholskys harte Worte über Stalin natürlich nicht. Aber dann gibt's doch wieder Pünktchen, eine Auslassung. Tucholsky hatte nämlich geschrieben: "Nicht auf diesen lächerlichen Stalin hören, der seine Leute verrät, so schön, wie es sonst nur der Papst vermag." - Den Papst wollte auch der Rowohlt-Band nicht beleidigen, also wurde Tucholskys "Selbstzeugnis" wieder verfälscht. Solange es diese Pünktchen und Auslassungen gibt, sollten wir uns als unbelehrbar erweisen. Sonst werden diese Pünktchen und die Auslassungen zunehmen, und die barbarische Wüste wird sich ausbreiten und uns bedrohen und töten, die Wüste der Intoleranz, des Verbrechens, der Gewalt, jene Wüste, die unter wechselnden Namen die Menschheit seit Jahrhunderten bedroht, die uns zuletzt unter dem Namen Stalinismus bedrohte, und die, kaum besiegt, ihren Namen wechselt, um uns mit gleichartiger Intoleranz und Gewalt zu bedrohen.
Mißtrauen lernen und unbelehrbar sein sind die Tugenden, mit denen wir uns gegen diese Wüste der Barbarei behaupten können. Weiterhin unbelehrbar sein, wie so viele unbelehrbar waren in der Zeit und in den Ländern des Stalinismus und in der Zeit McCarthys und der vielen großen und kleinen Führer und Diktatoren. Unbelehrbar sein wie die Demonstranten in der DDR im Herbst 1989, die gegen einen allmächtigen Sicherheitsdienst antraten, der weltweit berühmt-berüchtigt war, dessen Apparat und Effektivität noch ein Vierteljahr zuvor auch in Westeuropa fast mythisch beschrieben wurden, und der von gewaltlosen Demonstranten mit dem Ruf "Keine Gewalt" besiegt und zerstört wurde.
Dieser Sieg, die gewaltfreie Zerstörung eines allmächtigen und allgewaltigen Sicherheitsdienstes, wurde möglich, weil das eingeschränkte und zerstörte Leistungsprinzip nicht nur die Wirtschaft, die Demokratie und die Öffentlichkeit lädiert und zerstört hatte, sondern schließlich auch die ideelle Grundlage des Staates. Die Vision, der Traum von einer Sache, jenes geistige Prinzip, durch das die menschliche Arbeit und Gemeinschaft in einen absurden Leerlauf verfällt, war ausgelöscht worden. Ein geistloser Zustand aber erlaubt nur noch ein halbbewußtes Dahindämmern, er ist unfähig, produktiv zu werden und erlaubt nicht, sich aktiv zu verteidigen und zu wehren. Der überwältigende militärische und paramilitärische Apparat war gelähmt und nahezu paralysiert, da die eine Frage: wozu? nicht mehr beantwortet werden konnte.
Bei der Untersuchung der Oktoberereignisse und der Auflösung der Staatssicherheit stellten wir fest, daß in den Monaten und Jahren vor dem Oktober die Staatssicherheit immer wieder und immer eindringlicher die Staatsführung auf die Situation im Land aufmerksam gemacht hatte und irritiert und verständnislos die erstarrte Absurdität der Macht wahrnahm. Im Oktober stand den Demonstranten ein Sicherheitsdienst gegenüber, dem es scheinbar an nichts mangelte. Er besaß Menschen und Waffen, Geld und Gebäude, Technik und Akten, soviel er nur wollte, und er konnte jederzeit dieses Potential nach Belieben erweitern. Und trotzdem fiel dieser mächtige Apparat in wenigen Tagen in sich zusammen.
Ihm, der scheinbar alles besaß, mangelte eine einzige Kleinigkeit, eine oft belächelte, verspottete und befeindete Kleinigkeit: diesem beeindruckend mächtigen und fürchterlichen Moloch der Macht war die Idee abhanden gekommen und damit seine eigene Zukunft. Die Frage der Demonstranten: "Das Volk sind wir, wen beschützt ihr?" traf seinen neuralgischen Punkt. Der Moloch fiel in sich zusammen, weil er die Frage: wozu? nicht mehr beantworten konnte.
Ein Mensch, dem der Lebenssinn abhanden kommt, wird Selbstmord begehen. Eine menschliche Einrichtung, sei es eine Familie oder sei es ein Staat, die nur noch - und sei es bestens - funktioniert, aber die nichts darüber hinaus verbindet, die von keiner gemeinsamen Idee oder Vision oder ideellem Interesse getragen und verbunden ist, ist tot und wird verfallen. Es ist eine Besonderheit des Menschen, die ihn groß macht und ihn gefährdet, daß er diese merkwürdige Kleinigkeit einer Vision benötigt, um existieren zu können. Und kein noch so gewaltiger Panzer und kein noch so umfängliches Bankkonto können ihn retten, wenn ihm sein Traum verlorenging.
Freilich, dieser Traum und die Kraft und Bereitschaft, unbelehrbar zu sein, haben ihren Preis. Der unbelehrbare Büchner, der nicht bereit war, sich "vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte zu bücken", hat diesen Preis zahlen müssen. An seine Eltern schrieb er: "Daß übrigens noch die ungünstigsten Kritiken erscheinen werden, versteht sich von selbst; denn die Regierungen müssen doch durch ihre bezahlten Schreiber beweisen lassen, daß ihre Gegner Dummköpfe oder unsittliche Menschen sind."
Der Georg-Büchner-Preisträger Fried zitierte diese Worte am Ende seiner Büchner-Rede, weil auch er diesen Preis der Unbelehrbarkeit kennenlernen mußte.
In meinem Land hat sich in der letzten Zeit viel verändert. Ich zweifle aber nicht daran, daß - wenn sich auch alles, alles wendet - wir in dieser Welt voller Ungewißheiten gewiß sein können, daß dieser Preis der Unbelehrbarkeit auch künftig zu zahlen ist. Aber auch diese Arbeit muß getan werden und - wie schon einmal vor Jahren in der alten DDR - ich wünsche uns allen dazu Kraft und Mut und Rückgrat.
Der Erich-Fried-Preis hat für mich einen zusätzlichen und besonderen Wert, da er mir von Hans Mayer zugesprochen wurde.
Ich habe in Leipzig studiert, in einer alten Stadt, die sich in den letzten Jahrhunderten einen Namen machte und die sich in den letzten Monaten nochmals einen Namen und möglicherweise mehrere Namen machte. An der Universität der Stadt, deren damalige Gebäude den traditionsreichen Namen alma mater rechtfertigten - das heutige Universitätsgebäude gemahnt mehr an skyline -, an dieser Universität lehrten nach dem Krieg zwei Männer, Ernst Bloch und Hans Mayer, die wenige Jahre später genötigt waren, die Universität, die Stadt und das Land zu verlassen.
Als ich endlich studieren konnte - die Immatrikulation erfolgte für mich sehr spät, da sowohl meine Herkunft wie meine kurze Biographie mich als nicht förderungswürdig auswiesen - hatten diese beiden Männer Leipzig längst verlassen müssen. Aber ich studierte in einer Stadt und an einer Universität, die noch immer ein wenig von Bloch und Mayer geprägt waren. Ich studierte bei Professoren, die ihren Hegel aus Blochs Büchern zitierten, und die bei Büchner und Thomas Mann auf den verfemten Mayer verwiesen. Etwas von der Haltung und dem Geist dieser beiden Männer prägt noch immer die Universität. Eine halbherzige und versteckte Prägung, gewiß - schließlich verdient man in deutschen Landen seine Brötchen nicht allein durch Arbeit, sondern auch durch die rechte Gesinnung - aber es war allem zum Trotz etwas von Bloch und Mayer geblieben. Ich hoffe, daß die Universität in Leipzig, die den Namen Karl Marx trägt und erst jetzt die Chance hat, sich diesen Namen auch zu verdienen, bei den erforderlichen Veränderungen und neuen Prägungen sich wieder und deutlich an Ernst Bloch und Hans Mayer erinnert und sich ihrem Geist und ihrer Haltung verpflichtet. Um der Erneuerung willen.
So ist es für mich eine besonders hohe Auszeichnung, die Auszeichnung mit dem Erich-Fried-Preis von Hans Mayer zu erhalten.