Anlässlich der Verleihung des 15. Erich Fried Preises, am 14. November 2004.
Herzlichen Dank, lieber Wilhelm Genazino, für die sehr schöne Laudatio. Ich nehme sie mit großer Freude für die Gedichte entgegen, im Namen der Gedichte. Immer noch überrascht, immer noch sehr glücklich darüber. Aber ganz gleich, was ich in den nächsten Minuten sagen werde, Minuten des aufrichtigen Danks, der bei solchen Gelegenheiten trotzdem immer klingt wie eine Höflichkeitsformel - ganz gleich, was ich auch sagen werde über mein Verständnis von Gedichten als Weltsprache, vielleicht ein wenig im Anschluss an das, was Wilhelm Genazino herausgearbeitet hat, dieses menschliche Wunder des Sprechens überhaupt in all seiner Abgründigkeit oder auch über Erich Fried und sein Traum, sein Trauma, es einfach zu sagen - das Einzige, was Sie sich hinterher gemerkt haben werden, vermutlich, unweigerlich, ist das Laubgebäck.
Ein Wort, das es in deutschen Lexika nicht gibt, obwohl es so nahe liegt, immerhin gibt es Blätterteig oder Blättergebackenes. Die Franzosen sprechen z. B. von milles feuilles, Tausendblättrigem. Laubgebäck könnte eine schöne literarische Übersetzung davon sein. Oder ist es vielleicht längst. Vielleicht habe ich es doch irgendwo gelesen. Oder es ist als Wort in meinem Kopf dagewesen, als ich an einem der letzten warmen Herbsttage an der Bäckerei vorbeikam. Der Geruch von frisch Gebackenem wehte mich an. Ich kaufte ein Croissant und ging damit weiter, von der S-Bahn an die Spree. Ich war gerade aus Russland zurück und hatte ein paar Stunden lang in einem überheizten Zug die Herbstwälder vorbeiziehen sehen, dieses letzte sonnige Goldgeflirre, das es niemals gibt in Südostasien, wo ich die nächsten paar Wochen sein werde. So wie es in Russland keine Forsizien gibt und man deshalb ein Forsiziengedicht nicht ins Russische übersetzen kann. Zwar warm, sonnig, golden, auf die herbstliche Art, mit einem Riss zum Kalten hin, aus der die europäische Tradition einen ganzen Kanon von Herbstmetaphern entwickelt hat, die sich wiederum nicht in die Tropen übersetzen lassen.
Ich ging an der Spree entlang und biss in das Croissant und schurrte mit den Füßen am Boden im Laub - und beides zusammen, das blättrige Gebäck im Mund und das gelbe Geräusch am Boden, waren eins. Waren Laubgebäck für einen einzigen, endlosen Moment.
Erich Fried hat eine Menge dankbarer Leser, die am dankbarsten sind, dass er ihnen das Gedichtlesen leicht macht. Manchen davon scheinen seine Gedichte von so furchtloser Deutlichkeit, dass sie keine Gedichte mehr zu sein bräuchten. Es genügt, dass sie dies oder das einfach sagen. Anderen fällt beim Lesen noch angenehm auf, wie sie es sagen. In rhetorischen Denkfiguren nämlich, die bei genauerem Hinsehen dann doch ein bisschen zu flimmern beginnen. Was sagt er denn da so deutlich und sagt er nicht auch genau das Gegenteil? Womöglich in derselben Zeile, demselben Wort.
Das ist die anerkannte Kunst Erich Frieds. Dieses einfache Nicken und vielleicht Auflachen, das Vergnügen an der Deutlichkeit und dann die Beunruhigung, ob hinter den Binsenweisheiten und Taschenspielertricks nicht doch etwas lauert, das die Dinge aus ihrer Verankerung reißt. Begriffe und Menschen gleichermaßen.
Gedichte können das. Begriffe und Menschen aus ihrer Verankerung reißen. Sie können das mit einfachen wie komplexen Mitteln, scheinbar einfach, unscheinbar komplex oder andersrum. Sie können das, weil ihre Mittel so alt sind wie die menschliche Sprache selbst. Von den frühesten Zeigelauten der ersten Gebärdengrammatik bis heute, wo aus der Menschheit rund um den Globus ein Milliardenunternehmen geworden ist und die Lebenden in mehr Zungen sprechen als die Toten aller Jahrtausende zuvor.
Laubgebäck am Spreeufer, ein Moment zwischen den Reisen, die den Gedichten in ihre Übersetzungen folgen und einer halbwegs einsichtigen Kulturpolitik in die Praxis der interkulturellen Dialoge, in denen die eigene Arbeit zersplittert und sich neu zusammensetzt wie in einem Kaleidoskop. Jede Reise eine Zäsur, ein Wendepunkt. Ähnlich vielleicht wie die Zäsur am Zeilenende, die, von der das Wort Vers kommt. Meine Ortswechsel sind freiwillige. Ich werde nicht bedroht, nicht ins Exil getrieben. Mich tragen Neugier und Gelegenheit und ein Gefühl der Notwendigkeit. Dichten kann so ein Beruf sein, gerade Dichten. Wochen also, manchmal Monate, irgendwo anders. Der Mond hängt anders am Himmel, das Klima, das Essen, der Alltag sind anders. Die Ausschnitte der globalen Infrastruktur, das Ideengefüge aus Geschichte, Politik, Religion, Kunst. Der soziale Horizont. Anders und dann wieder ähnlich. Anthropologische Inventare, die einander wiedererkennen. Und am ähnlichsten in aller Fremdheit die Poesie.
Dabei knirscht es und bröselt dieses Laubgebäck. Zwischen den Blättern der übliche Abfall, die Hundescheiße, die Bierdosen, die Kondome. Und nichts, gar nichts, ist einfach, wenn Fremde und Nähe aufeinander prallen. Wenn die feministische Linguistin, die ich treffe, ein Kopftuch trägt oder der junge Underground-Filmer ein Bin Laden T-Shirt. Wenn wir über die Gespenster der europäischen Massenmörder reden oder über die weltweite Mordpolitik der Gegenwart, über Globalisierung, Ökologie, Gerechtigkeit. Wir benutzen dieselben Mobilfunknetze und vollkommen verschiedene Freiheitsbegriffe. Nichts ist einfach und schon gar nichts ist einfach zu sagen.
Es bröselt überall in diesen Schichtungen von Übersetzung und Mehrsprachigkeit, Halbsprachigkeit, Viertelsprachigkeit. In unserem globalen Film- und Pop- und Kunstprojekte-Englisch. In unseren tastenden, irritierten Ausdrucksversuchen. Nichts ist einfach und gar nichts davon ist einfach zu sagen.
Aber wer, wenn nicht wir, soll es überhaupt versuchen? Auch Kunst, auch Poesie lassen sich missbrauchen, instrumentalisieren, korrumpieren natürlich. Und noch im Glücksfall liegen Welten von Eigensinn, Hintersinn, Widersinn. Zwischen Kommunikation und Kunst, zwischen Verständigung und Poesie.
Und doch, glaube ich, ist Poesie die wichtigste, noch zu entdeckende Denkform der Gegenwart.