Laudatio auf Klaus Schlesinger
zum Anlaß der Überreichung des Erich-Fried-Preises
in Wien am 2. Dezember 2000
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Meine Damen und Herren, oder besser gesagt Liebe Kinder!
Es war einmal eine Zeit, da hatte die Literatur eine außerordentliche Wichtigkeit - ob ihr glaubt oder nicht.
"Am 30. Dezember 1971 berichtete der Polizeihauptmann XY, Leiter der Unterabteilung III/III-4c des ungarischen Innenministeriums über ein Vorkommnis ersten Ranges. Der Bericht galt seinem Kollegen, der ebenfalls als Polizeihauptmann die Unterabteilung III/III-4b leitete, und womöglich in dem selben Haus sein Arbeitszimmer hatte. Der Bericht begann wie folgt:
"Am Anfang dieses Monats besuchte als Gast des Ungarischen Pen Clubs der BRD-Dichter österreichischer Abstammung Erich Fried die Volksrepublik Ungarn. E. Fried war mit 17 Jahren vor dem Faschismus nach England emigriert, von wo aus er später in die BRD umgezogen hatte. Bei dem Dichter E. Fried handelt es sich um eine Person mit linker, ja, sogar linksradikaler Einstellung. Er war zum ersten mal in unserem Land. (...) Während seines Aufenthaltes traf er sich Erich Fried unter anderem mit György Dalos (...)."
Man schrieb also den 30. Dezember 1971, auf die Straßen fiel der Schnee - den den es damals auch noch gab, in länglichen weißen Flocken. Möglicherweise war es schon Nachmittag und der zuständige Offizier der ungarischen Geheimpolizei dachte bei sich: Erich Fried samt seiner komplizierten Abstammung, merkwürdigen Weltanschauung und suspekter Begegnungen dürfe nicht auf lange Bank geschoben werden, sondern gehöre noch in diesem Jahr auf den Tisch des Kollegen. Morgen wäre es zu spät und die höchst geheime Information würde womöglich in der stürmischen Silvesterstimmung verebben, um ihre brennende Aktualität gleich in den ersten Januartagen des Jahres 1972 unwiderruflich zu verlieren. Verzeihen Sie mir die Unbescheidenheit, wenn ich behaupte, daß das erhöhte Interesse des ungarischen Geheimdienstes, einer bescheidenen Nachahmung der stolzen Tscheka, damals eher dem Besuchten als dem Besucher gegolten hatte: Ich war soeben einem kurzen Lagerhaft entlassen, die ich im Grunde unerlaubten Westkontakten zu verdanken hatte.
Letztere waren entsprechend der zunehmenden Operettenhaftigkeit des Systems nie konsequent geahndet. Hier waltete die höhere Staatsraison: Der Imperialismus mußte bekämpft und der Sozialismus aufgebaut werden, und der Klassenfeind stellte zur Finanzierung dieser Vorhaben die wichtigste Einnahmequelle dar, auf die man keineswegs verzichten wollte. Die von den Historikern heute so genannte weiche Diktatur hatte ein Herz für die harte Währung. So konnte der anarchistische Lyriker Fred Viebahn als DM-Tourist getarnt nach Budapest einreisen und meine Aufmerksamkeit auf potentielle Gesinnungsgenossen in der DDR lenken, unter welchen er einen gewissen Klaus Schlesinger als besonders herausragende Gestalt zu würdigen wußte.
Im nächsten Sommer wurde mein bereits seit fünf Jahren andauerndes absolutes Reiseverbot zunächst in Richtung Osten relativiert und so nahm ich das nächstbeste Flugzeug der Gesellschaft Malév und landete in der Hauptstadt der DDR. Fred Viebahn war aus Westberlin gekommen und führte mich in die Wohnung des von ihm empfohlenen Anarchisten Schlesinger, damals in der Brunnenstraße. Was die Anarchie betraf, so zeigte sich diese unverkennbar bereits im Vorzimmer und dann in allen Räumlichkeiten des Ich-weiß-nicht-wie-viel-Zimmer-Quartiers des Autors. Kindergeschrei, Popmusik, Westfernsehen, Chaos von Papieren und Büchern, ein unentwegt klingelndes Telefon und eine kaum verhüllte Lust der Wohnungsinhaber über die unbürgerlichen Lebensbedingungen - so erlebte ich Klaus Schlesingers Alltag.
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Im Sommer 1978 besuchte mich Klaus Schlesinger in Budapest - zwei Jahre nach Biermanns Ausbürgerung, wogegen auch er protestiert hatte. Meinen Stasiakten konnte ich entnehmen, daß solcherart Treffen in den Augen des MfS ausschließlich dazu da waren, staatsfeindlichen Zwecken zu dienen. Ich weiß nur, daß wir viel Bier tranken, über Literatur sprachen und den interessierten weiblichen Blicken, die leider eher Klaus als mir galten, nicht Abhold waren.
Nur ein einziges, in der Stasi-Sprache als "sicherheitsrelevant" zu bezeichnendes Moment ist mir von diesem Besuch in Erinnerung geblieben. Es war ein Samstag Vormittag, wir waren an dem Flohmarkt. Plötzlich entnahm mein Gast aus der Tasche seiner etwas abgewetzten Jeans ein Stück Papier aus, das er ausgerechnet in seinem DDR-Ausweis aufbewahrte. Es handelte sich um einen Brief von Schlesinger an das ZK der SED und betraf den verhafteten Philosophen Rudolf Bahro, der unter anderem "nachrichtendienstlicher Tätigkeit" bezichtigt wurde. Das war keine Petition, sondern eine rein private Botschaft, durch und durch unpolitisch. Bitte, laßt den armen Mann frei! Selbst aus dem ADN-Text geht doch hervor, daß er kein Spion ist.
Ich möchte allen Rittern des nachträglichen Antikommunismus relativ wohlwollend in das Bewußtsein rufen, daß Schlesingers stiller Protest gegen den idiotischen Akt staatlicher Willkür ein privates Unternehmen und der Brief für ihn eine Art inoffizieller Personalausweis war. Es ging dabei überhaupt nicht um den Sturz des Regimes, nur um elementare Fragen des Anstands - fast um eine philologische Frage, die der Schriftsteller den stilistisch unsicheren Autoren von Anklageschriften und Urteilen stellte. Ist das Wort "Spionage" etwa der adäquate Begriff für die kritische Beschreibung einer Gesellschaft, nur weil diese (die "Alternative") in Ermangelung anderer Veröffentlichungsmöglichkleiten im feindlichen Ausland erschien?
Gleichzeitig war mir bewußt, daß die Adressaten dieses Briefes in der bloßen Tatsache, daß jemand es wagte, einen derartigen Brief zu schreiben, notwendigerweise eine größere Bedrohung sahen, als im Inhalt des Schriftstücks. Das Selbstverständnis des Spätsozialismus glich dem eines Hypochonders, der am Ende an einer Grippe starb, Angst hatte er aber aber eigentlich nur vor Fieber hatte, vor allem ab vor jenen, die das Fieber diagnostizierten. Die medizinische Gegenmaßnahme war - im Falle Schlesingers wie auch in anderen Fällen - der Ausschluß aus dem Schriftstellerverband.
Zufällig - das er wirklich zufällig war, glaube ich heute nicht mehr - befand ich mich im Herbst 1979 wieder in Ostberlin. Ich begleitete Klaus Schlesinger bei einem Rundgang durch die Stadt. Von den damals aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossenen neun Autoren, geschaßt durch Hermann Kants Inquisition, die der Mupper-Show nicht unähnlich war, lernte ich fünf kennen. Sie saßen vor dem Fernsehgerät und lauschten dem ARD und der ZDF zu. Sie wollten wissen, ob die Westglotze vielleicht mehr als sie selbst über die Absichten jenes Staates weiß, dessen Bürger sie waren.
Ich könnte die Autoren von meiner heutigen Warte vielleicht als naiv bezeichnen. Drei Monate später jedoch wurde ich mit meiner damals sechsjährigen Tochter nach unserer Ankunft auf dem Flughafen Schönefeld sofort nach Budapest zurückgeschickt, und von diesem Ereignis war ich ehrlich überrascht. Auf dem Rückweg versuchte ich meine Tochter davon zu überzeugen, daß eine schnelle Hin- und Rückreise mit dem Malév-Flugzeug gewisse Vorteile habe: So kann man innerhalb von drei Stunden zweimal Salamibrötchen essen und man kriegt auch zweimal Milchschokolade geschenkt.
Gleichzeitig wußte ich, daß meine Ostberliner Freunde ebenso ratlos auf diese neue Eskapade ihrer Regierung reagieren würden wie ich. Nach mühsamen Telefonaten stellten sie fest, daß ich mich womöglich wieder in Budapest befand. Aus diesem Anlaß - so lese ich heute in einem Bericht von Major Salatzki aus der Hauptabteilung XVIII(5)1 des MfS - traf sich einer von ihnen an der Weltzeituhr Berlin-Mitte "von 12. 05 Uhr bis 12. 06 Uhr des 29. Dezember 1979 mit vier männlichen Personen (...) die gegenwärtig anhand der angefertigten konspirativen Fotos identifiziert werden. Bei einem der vier Personen handelt es sich um Klaus Schlesinger. Zu Übergabenhandlungen kam es nicht." Da kann man doch wirklich von Glück im Unglück sprechen, und die Weltzeituhr konnte ruhig weiterticken. Das ist ohne Frage absurdes Theater. Meine Damen und Herren, leider gibt es in den letzten zwanzig Jahren kaum Ereignisse, die nicht dieser Kunstgattung oder dem Genre Science Fiction zugeordnet werden könnten! Hätten Sie etwa jemanden geglaubt, der Ihnen anno 1980 voraussagt, Erich Honecker würde eines Tages bei Augusto Pinochet politisches Asyl beantragen, während dieser wiederum einige Jahre später als der englische Patient in London festgehalten würde! Oder noch peinlicher: Wer hätte eine Konstellation vorausahnen können, in der die amerikanische Luftwaffe zum Schutz der Albaner ausgerechnet die chinesische Botschaft in Belgrad bombardieren würde?
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Ich höre bereits die berechtigte und nur aus Höflichkeit verdrängte Frage: Was hat dies alles mit der Würdigung von Klaus Schlesinger als Schriftsteller zu tun? Erstens bin ich überzeugt, daß die Tatsachen der Biographie nur bei wenigen Autoren so stark wie bei ihm die Themen und Charakteristika des Schreibens mit geprägt haben 1937 geboren, beobachtete er als Halbwüchsiger die Teilung Deutschlands und mit vierundzwanzig Jahren konnte er den Mauerbau miterleben. Dann wurde er Ingenieur in der Republik mit dem Zirkel in ihrem Staatswappen und avancierte bald zu einem - um Stalins geflügeltes Wort zu benutzen - "Ingenieur der menschlichen Seele". Nach der Aberkennung seines Status als Kulturschaffender wählte er Westberlin als Aufenthaltsort, um nach der Wende wieder in den Osten zurückzukehren. Bei aller Dramatik spielten sich diese schicksalhaften Ereignisse in derselben, wenn auch geteilten Stadt ab, sozusagen in der deutsch-deutschen Hügellandschaft: Prenzlauer Berg, Kreuzberg und Schöneberg.
Zweitens - und dies war bereits für das Geschriebene ausschlaggebend - konnte auch Schlesinger nicht in der Lüge leben. Sicher ging es dabei für ihn um persönliche Moral wie bei Scholschenyzin oder Havel, aber weniger um eine Haltung als um die Berufsethik. Verlogene Bücher sind einfach keine gute Literatur. Gleichzeitig ist die Wahrheit in der Literatur mehr als einfach das Gegenteil der Lüge oder einer beschönigenden Propaganda. Der Autor muß die von ihm geschilderte Welt und seine Protagonisten akribisch genau kennen, darf keinerlei romantischen Verlockungen nachgeben und muß sich an das Prinzip das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel halten und für eine adäquate Beziehung zwischen Gegenstand und Stil sorgen.
Als Musterbeispiel dafür würde ich die zu DDR-Zeiten entstandenen Schlesinger- Erzählungen "Michael" und "Alte Filme" nennen. Bereits in diesen frühen Werken interessierte sich er am meisten das Pittoreske, das Baufällige, das DDR-tpyische Auseinanderfallen von ideologiegetränktem Klischee und der Wirklichkeit - immer aus der Sicht der sogenannten kleinen Leute. Dasselbe läßt sich über den "Berliner Traum", "Leben im Winter" (geplanter Arbeitstitel: Kalt in Deutschland!) sowie "Matulla und Busch" sagen. In der ungarischen literarischen Tradition der dreißiger Jahre bezeichnete man solcherart melancholischen Menschen- und Milieuschilderungen als "feenhaften Realismus".
Schlesinger selbst kommentiert sein Werk recht sparsam. Teile seiner Tagebücher aus den achtziger Jahren erschienen 1990 gleichzeitig bei einem West- und Ostverlag. 1997 gab er seine einen Band mit Essays und Publizistik unter dem Titel "Von der Schwierigkeit, Westler zu werden" heraus. Das Buch enthielt provokante Sätze wie diesen: "Die Wahl zwischen der BRD und der DDR war mir immer schon vorgekommen wie die Wahl zwischen Pest und Cholera oder zwischen der luxeriösen und der gemütlichen Grube."
Übrigens weiß ich nicht, warum solche Sätzen auf so große Irritation stießen. Bereits in fünfziger Jahren äußerte Hans Magnus Enzensberger in seinem Gedichtband "Landessprache" Widerwillen darüber, daß er zwischen dem "Frankfurter Allgemeinen Geröchel" und dem "Geröchel des Neuen Deutschland" zu wählen habe. Er wollte lieber "in einem ganz einfachen Land" leben, ohne genaue Ortsangabe, nur "hier nicht. Nicht hier". Ein gespaltenes Land und eine gespaltene Geschichte erzwingt bei manchen Autoren die Ambivalenz als künstlerische Sichtweise.
Die zwei jüngsten Werke von Klaus Schlesinger erheben den inneren Zwist beinahe zum Ordnungsprinzip. In dem Roman "Die Sache mit Randow" werden unter der Vorwand der Rekonstruktion eines historischen Kriminalfalls vierzig Jahre DDR-Geschichte mit dem doppelten Blick eines Straßenkindes der frühen fünfziger und eines beruflich gescheiterten Intellektuellen der achtziger Jahre geschildert. Die außerordentliche schriftstellerische Kraft dieses Romans steckt in der Liebe des Autors zum Detail. Jede Toreinfahrt, jeder Nebensatz und jedes Kleidungsstück ist wichtig für die Handlung dieses Buches, in dem die Wahrheit von Seite zur Seite vorsichtig aus der Hülle ihres Geheimnisses herausgeschält wird - die Wahrheit des Kindes über die Welt der Erwachsenen und diejenige der Erwachsenen über ihre Gesellschaft.
Der zweite Text - der Autor bezeichnet ihn als "Kurzroman" ist der in diesem Jahr veröffentlichte "Trug", der übrigens ebenfalls auf die Bestenliste kam wie schon zuvor "Die Sache mit Randow". Ein Mann namens Strehlow, der 1962 im Kofferraum eines Diplomatenautos die Republikflucht erfolgreich hinter sich brachte und dabei seine schwangere Liebe in der DDR zurückließ, kommt 1984 als westdeutscher Immobilienmakler nach Ostberlin zurück. In der Kneipe namens "Espresso" trifft er auf einen anderen, der sich Skolud nennt, der ihm gespenstisch ähnlich sieht und mit mindestens genauso stark seelenverwandt ist: Dieser führt ihn behutsam zu der einst verlassenen Frau zurück und während das Paar seine wiedergefundene Liebe feiert, geht der Mann, der sich Skolud nennt, mit dem bundesdeutschen Paß seines Gegenparts einfach über die Grenze. Strehlow läuft ihm noch nach, aber der brave Grenzpolizist im Tränenpalast ruft ihn zur Besinnung und so kehrt er mit einem fremden, aber gültigem DDR-Ausweis in das alte Leben zu der ehemaligen Geliebten in die Rykestraße zurück.
Diese überraschende Wendung der letzten fünf Seiten verschweigen die meisten Rezensenten taktvoll, als handle es sich um einen Krimi, dessen Auflösung nicht verraten werden darf. Dabei sehe ich in dieser unglaublichen und wahren Geschichte eher ein als realistische Erzählung getarntes modernes Märchen. Es gibt auch Verweise mancher Kritiker auf E. T. A. Hoffmann, ein Vergleich, der keinem Buch schaden kann. Mir fiel jedoch spontan ein anderer Autor ein: Mark Twain mit seinem wundervollen "Der Bettler und der Prinz". Nur die Logik des Verwechslungseffekts wirkt bei Schlesinger umgekehrt: Die Austauschbarkeit der beiden Personen dient nicht als Ausgangspunkt der Erzählung sondern als ihr Fazit.
Oder auch nicht - wir brauchen nur ein wenig weiter zu phantasieren. Fünf Jahre später fällt die Mauer; Strehlow und Skolud treffen sich wieder in der alten Kneipe, die mittlerweile sicherlich ein gesamtdeutsches Outfit bekommen hatte. Die Frage, wer sich damals oder überhaupt für das Richtige entschieden hatte, erweist sich nun endgültig ald obsolet, - allerdings nicht auf der flachen Ebene des langweiligen Diskurses Ossi/Wessi. Vielmehr löst sich sie in einer nostalgischen, melancholischen und ironischen Grimasse auf: die Art und Weise, wie wir gelebt haben, war, zumindest im Nachhinein erzählt, ohnehin das einzig mögliche Leben.
(Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zyllay)