Walter Hinderer
Zur Verleihung des Erich Fried-Preises 2000
Sehr geehrter Herr Staatsrat, sehr geehrter Herr Ministerialrat,
lieber György Dalos, lieber Klaus Schlesinger, liebe Freunde der internationalen Erich Fried Gesellschaft für Literatur und Sprache, meine Damen und Herren!
Gewiß: wir leben nicht mehr in Brechts finsteren Zeiten, aber schwierige sind es doch. Ein berühmter Sohn der Stadt Klagenfurt meinte ebenso besorgt wie polemisch: "Es gibt wenig Länder, die so leidenschaftlich Politik treiben, und keines, wo Politik bei ähnlicher Leidenschaft so gleichgültig bleibt wie in diesem; Leidenschaft als Vorwand. Im gegenwärtigen Zustand freilich überwiegt jedenfalls der Mangel an Sinn, und sie vertreiben sich die Wartezeit mit Lärmen. Ihre Kraftgebärden sind noch ein Zeichen der Schwäche, während andernorts der Schein von Kraftlosigkeit schon auf einer Stauung von Kraftmassen beruht."
Die Bestandsaufnahme, hinter der ich mich verstecke, stammt - Sie haben es sicher erraten - von Robert Musil und kommentiert die österreichische Politik des Jahres 1912. Für ihn lag "etwas Unheimliches in diesem hartnäckigen Rhythmus ohne Melodie, ohne Worte, ohne Gefühl". Er vermisste eine "treibende Idee" und beklagte indirekt, daß Österreich die vielen Möglichkeiten, etwa die "einer kulturellen Symbiose verschiedener Völker", nicht realisiert hat; denn seiner Ansicht nach könnte Österreich "ein Weltexperiment" sein. Dabei gibt es wenig Staaten in Europa, bei denen Multikulturalität dergestalt zum traditionellen Selbstverständnis gehört hat wie in Österreich. Ich darf dafür gleich noch einen anderen Zeugen aufrufen, diesmal einen bekannten österreichischen Prosaisten und Stückeschreiber, der 1929 auf eine Anfrage folgende autobiographische Notiz zur Verfügung stellte: "Sie fragen mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde in Fiume geboren, bin in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien und München aufgewachsen und habe einen ungarischen Paß - aber: 'Heimat' kenne ich nicht. Ich bin eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch - mein Name ist magyarisch, meine Muttersprache ist deutsch." Soll ich noch hinzufügen, daß sich das Archiv von Ödön von Horváth, um den es sich hier natürlich handelt, bis vor kurzem in der Berliner Akademie der Künste befand? Wie Sie sehen oder besser: hören, versuche ich mit Hilfe des Autors der "Geschichten aus dem Wiener Wald" (1931), einen Brückenschlag von Ungarn über Österreich nach Preußen vorzunehmen, einen Brückenschlag freilich, bei dem eine kakanische Parallelaktion aus offensichtlichen Gründen ins Wasser fällt.
Immerhin kann ich darauf hinweisen, daß auch der Schutzpatron unserer Gesellschaft, der Londoner Wiener Erich Fried, wie so manche österreichische Autoren und Autorinnen für Grenzgänger plädierte, bei denen wie bei Ingeborg Bachmann allenfalls die Worte grenzen. Max Frisch hat den Sachverhalt in seinem Tagebuch 1946-1949 so ausgedrückt: "Heimat ist unerläßlich, aber sie ist nicht an Ländereien gebunden", und aus seiner Schweizer Perspektive angemerkt: "Wir sind Emigranten geworden, ohne unsere Vaterländer zu verlassen."
Sie, lieber György Dalos, haben allerdings Ihre Vaterländer verlassen, haben sich von Ungarn ins mehr oder weniger vertraute Wien begeben und nun in Berlin niedergelassen. Sind Sie darin Ihrem passiven Antihelden Tamás Cohen aus dem brillianten Roman "Der Versteckspieler" gefolgt oder drückt sich darin einfach das Verlangen des "globalen Menschen" aus, des Möglichkeitsmenschen, der sich offen hält für neue Erfahrungen, eigene und fremde? Wie dem auch sei, im Namen des Präsidiums der internationalen Erich Fried Gesellschaft für Literatur und Sprache darf ich Ihnen ganz herzlich danken, daß wir Sie für die 11. Verleihung des Erich Fried Preises als Juror gewinnen konnten. Ihre Wahl, wie konnte es anders sein, traf wiederum einen Grenzgänger, Klaus Schlesinger, der sich auskennt in den Gefühlen des Emigrantischen, obwohl er sein Land nie eigentlich verlassen hat. Sie beide personifizieren auf eine eindrucksvolle Weise, daß authentische Literatur für politische Diktaturen ein Ärgernis ist. Sie, György Dalos, wurden bereits als 25jähriger in einem Prozeß mit Haft und Arbeitsverbot bestraft, und Sie, Klaus Schlesinger, mußten 1980 die DDR verlassen. Die politischen Erfahrungen mit dem totalitären System in Ungarn und in der DDR sind in Ihre Arbeiten eingegangen. Ich habe 1994, als ich den Roman "Der Versteckspieler" für die FAZ rezensierte, aus meiner Bewunderung keinen Hehl gemacht, wie aus einem kunstvoll arrangierten Mosaik von Ansichten der Parteigänger des repressiven, mit den Jahren immer brüchiger werdenden kommunistischen Systems und den verschiedenen internationalen politischen Ereignissen ein anschauliches Panorama ungarischer Zeitgeschichte von 1957 bis 1979 entsteht. Der amüsante passive Antiheld Tamás Cohen, ein erotischer Möglichkeitsmensch, den seine Liebesbeziehungen schließlich wie die ungarische Ökonomie in den Bankrott führten, so daß ihm nur noch die Flucht in die andere Welt retten konnte, wird mir ebenso unvergeßlich bleiben, wie der Knabe Robi Singer in der Geschichte "Die Beschneidung" (1990), eines der köstlichsten Beispiele von Schelmenprosa, die in den letzten fünf Dekaden geschrieben wurde. Seit der Anna Bronski in Günter Grass' "Blechtrommel" hat mich keine Großmutter mehr beeindruckt als die Großmutter von Robi Singer, die natürlich auch die Ihre war, die Witwe des Armin Berliner. Doch da bin ich schon bei einem anderen Buch, bei der Sammlung von Geschichten und Erinnerungsanekdoten, die 1996 unter dem bezeichnenden Titel "Der Rock meiner Großmutter" erschienen sind und auch die Dokumontage "Mein Großvater und die Weltgeschichte" (zuerst 1985 im literarischen Colloquium publiziert) enthält. Selbst Ihre Sammlung von Ostblockwitzen mit dem schönen Titel "Proletarier aller Länder, entschuldigt mich" (1993) verleugnet nicht die autobiographischen Bezüge. Darf ich kurz daraus zitieren? Ich wähle folgende Fußball-Anekdote: "Otto von Habsburg redet im Europaparlament und merkt plötzlich, daß kaum jemand im Saal sitzt. 'Was ist los?' fragt er den Saalwärter. 'Warum ist heute niemand da?' - 'Wegen des Fußballspiels', antwortet dieser, 'Österreich- Ungarn'. - 'Österreich-Ungarn?' fragt Otto zurück. 'Gegen wen?'"
Treffend sind auch die "Spielregeln für Intellektuelle":
Wenn du etwas denkst, sage es nicht.
Wenn du etwas sagst, schreibe es nicht.
Wenn du etwas schreibst, veröffentliche es nicht.
Wenn du etwas veröffentlichst, wundere dich nicht.
Sie schreiben in der Vorbemerkung, daß diese Witzsammlung den "Abschied von einem langjährigen Dasein als Ostbürger" darstelle und fügen hinzu: "Meine Gefühle bei diesem feierlichen Akt sind gemischt, Freude und Trauer über Vergangenes ist darin, aber vielleicht auch Erleichterung über die Entlassung aus einer nicht besonders witzigen Variante der Weltgeschichte."
Dieselben gemischten Gefühle nehme ich bei unserem Preisträger Klaus Schlesinger wahr, von dessen früher Prosa mir noch lebhaft die Erzählung "Alte Filme" in Erinnerung ist, in der er ebenso spannend wie differenziert den Alltag der DDR aus der Perspektive eines kreativen Durchschnittsbürgers schildert. In der Kurzgeschichte "Der Tod meiner Tante" (aus dem Band "Berliner Traum", 1977), eine der bewegendsten und ingeniösesten, die nach 1945 geschrieben wurden, stellt er auf atemberaubende Weise dar, wie eine ursprünglich "energische und lebenslustige Frau" durch das politische System kriminalisiert und in den Tod getrieben wird. Es ist ein subtiles politisches Lehrstück, das in ein Lesebuch für Staatsbürger gehört. Nichstdestoweniger findet sich in Klaus Schlesingers Essayband "Von der Schwierigkeit, Westler zu werden" (1998), der veröffentlichte und unveröffentlichte Texte von 1993 bis 1997 enthält, gleich zu Anfang das Bekenntnis: "Die Wahl zwischen der BRD und der DDR war mir schon immer vorgekommen wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Oder zwischen der luxuriösen und der gemütlichen Grube. Was soll ich für einen Grund haben, der einen nachzuweinen oder die andere zu feiern? In beiden Ländern ist es mir bekleckert genug gegangen, und ich sehe nicht ein, warum ich die paar Freuden, die ich natürlich auch hatte, den Systemen zuschlagen soll. Am besten ging es mir, wenn ich den beiden deutschen Staaten den Rücken kehrte, ob nun Richtung Krakow, Budapest oder Paris."
Was der Preisträger hier als Wunschmöglichkeit vorschlägt, hat unser Juror - allerdings in geographischer Umkehrung - bereits realisiert. Budapest und Berlin, Berlin und Budapest heißen die Stationen, und die Donaustadt Wien vereint heute beide, was wir Friedeaner nicht ohne Stolz notieren. Die beiden Ostblockbürger, die wir heute Abend feiern und die aus ihren Werken lesen werden, haben, so scheint es, trotz verschiedener Herkunft ähnliche Erfahrungen gemacht. In seinem Bericht "Die Akte" von 1993 analysiert Klaus Schlesinger, selber ein Objekt des omnipräsenten Staatssicherheitsapparates, ebenso unparteiisch wie ausgewogen das Syndrom und beruft sich in diesem Zusammenhang dergestalt auf unseren heutigen Juror: "Der ungarische Ironiker György Dalos sagte neulich, es gäbe zwei Möglichkeiten, um festzustellen, ob einer bei der Stasi war oder nicht. Die eine ist der Blick in die Akten; die andere der Blick in die Augen."
Die Essays Schlesingers jedoch belegen: je länger sich der betroffene Autor mit dem Problem beschäftigt, desto vorsichtiger wird er in seinem Urteil. Nicht selten hat er den Eindruck, daß die Akten - statt zur Klärung der Verhältnisse - "zu Instrumenten des Verdrängungswettbewerbs im Politischen wie im Kulturellen benutzt" werden. Ich kenne keine Darstellung der widerspruchsvollen Vereinigung von West- und Ostdeutschland, die mich so zum Nachdenken angeregt hat wie Klaus Schlesingers fünfzig Seiten langer Brief nach Island, dem letzten Beitrag seiner Essaysammlung zum Thema. Nicht ohne komplizenhaftes Vergnügen stellte ich außerdem fest, daß beide Autoren, Dalos wie Schlesinger, eifrige Fußballfans sind. Während der Ostblockbürger Schlesinger die Weltmeisterschaft der Walterelf in der Schweiz 1954 als Sieg Deutschlands gegen Ungarn feierte, erlebte der Ungar Dalos die Niederlage seiner favorisierten Elf als nationale Tragödie. Beide Autoren sind im besten Sinne des Wortes politisch engagierte Autoren, die mit ihren Romanen und Essays Auswege aus der aufgezwungenen, eben nicht selbstverschuldeten Unmündigkeit suchten und suchen. Die authentische persönliche Erfahrung ist ihrer Porsa ebenso eingeschrieben wie ihren Reflexionen, Erörterungen und Polemiken. Natürlich könnte ich an diesem Punkt weiter ausgreifen, ihre neuesten Romane vorstellen und einzuordnen versuchen, aber ich überlasse besser den Dichtern die Erfindung und Verbindung geflügelter Worte, und ziehe mich zurück mit einer Zusätzlichen Bedingung unseres Erich Frieds. Sie lautet:
Wichtig
ist nicht nur
daß der Mensch
das Richtige
denkt
sondern auch
daß der
der das Richtige
denkt
ein Mensch ist