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"Freiheit oder Schicksal"

Erster, kurzer Versuch einer Rekonstruktion von "Engagement": Neu- und vorläufige Endfassung der Rede zur Verleihung des Fried-Preises, die Robert Menasse diese Woche beim Adorno-Symposion in Frankfurt präsentierte.

Jeder Mensch hat sein Schicksal. Das sagt sich so leicht. Doch unbedacht-bleibt der Skandal, der in dieser Feststellung liegt. Wer auf seinem Lebensweg vor Gabelungen, Kreuzungen und erst recht vor dem Dreiweg die Möglichkeit und die Fähigkeit hat, sich zu entscheiden, welche Richtung er einschlägt, dessen Leben ist eben nicht schicksals-, sondern selbstbestimmt. Schicksal, das ist das Leben zum Tod, ohne Alternativen. Solange einer, der "Ich" sagt, auch Entscheidungen treffen kann, solange hat er nicht "Schicksal", sondern einfach ein Leben, wie windig auch immer, entweder mit Rücken- oder mit Gegenwind.

Schicksal, das ist unerheblich, solange freie Entscheidungen nicht mit Freiheitsentzug, aufrechter Gang nicht mit Beugehaft, Lebensvorstellungen nicht mit dem Tod bestraft werden. Die Gefahr aber, durch eine Entscheidung Einkommen, Ansehen und Einfluss einzubüßen, macht das, was man glaubt tun zu müssen, um Einfluss, Einkommen, und Ansehen zu erhalten, nicht schicksalhaft. Wer "Ich kann nicht anders" sagt, obwohl er nicht nur anders könnte, sondern anders müsste, hat nicht sein eigenes Schicksal bezeichnet, sondern allzu oft das Schicksal anderer besiegelt. Wer ins Gas gehen musste, hatte ein Schicksal, wer zur Arbeit geht, hat keines. "Ich kann nicht anders" - dieser Satz hat eine je eigene Bedeutung im Munde Luthers oder Eichmanns.

Schicksal ist grundsätzlich alternativlos, während die Bedingungen unseres Lebens und unserer Arbeit lediglich in ihrer Freiheit mehr oder- weniger eingeschränkt sind. Diese Differenz lässt einen kleinen, aber ausreichenden Raum für Entscheidungen,- die nur, solange wir sie- nicht selbstbestimmt treffen, schicksalhaft für uns getroffen werden. Der emphatische Anspruch der Aufklärung war es ja zunächst nicht, das Schicksal der Menschen zu "verbessern", sondern sie von Schicksal zu befreien. Dies ist eigentümlicherweise heute vergessen, seit der Wiederaufbauzeit, als die Trümmer beseitigt, also auch die Trümmer der Aufklärung aufgeräumt wurden, und die Infrastruktur wiederhergestellt, also auch die Ideen der Aufklärung restauriert, nämlich zum Unterrichtsgegenstand wurden, wie das Neolithikum, die Punischen Kriege oder die Renaissance. Und seither hatte auch die Aufklärung einen Makel - sie, die Kriegserklärung gegen die Schicksalhaftigkeit des Lebens, sie hatte nach dem Krieg selbst ein Schicksal - eine Geschichte, die sie nicht wollte, eine Niederlage, der gegenüber sie wehrlos gewesen war, eine Befreiung, die nur eine Befreiung der Bedingungen ihrer Notwendigkeit war, aber nicht ihre Befreiung.

Immer wieder ist in der Geschichte etwas anders gekommen, als von Menschen geplant. Aber zum ersten Mal in der Geschichte ist anders gekommen, als Menschen dachten, dass es von der Geschichte selbst geplant gewesen sei. Deshalb war die- Befreiung vom Nazi-Terror nichts anderes als dies: die- Befreiung vom Nazi-Terror, nicht weniger und nicht mehr. Vor der Aufklärung war diese Befreiung also historisch eine von der Aufklärung.

In dieser Befreiung waren daher - gegen allen Anschein - die Bedingungen für Selbstbestimmung und Freiheit schlechter als je zuvor: nicht nur theoretisch, wegen des Makels, der nun dem Geist anhaftete, sondern auch praktisch, weil allen nun schon alles als absolute Freiheit erschien, was nicht von absolutem Terror begleitet war.

Damit sind wir bei Bert Brecht, Jean Améry, Erich Fried, bei Adorno, Sartre und all den anderen, die zu den Lehrern meiner Generation wurden. Geprägt - und gebrochen - von dieser Geschichte, machten sie die alte Emphase der Aufklärung wieder glaubwürdig, indem sie sie als Quelle selbst ihres Pessimismus verwendeten, indem sie trotzig aufmüpfig wurden auch gegen das Aporetische ihrer eigenen Existenz, indem sie die gedemütigte Größe des Lebens durch ihre eigene Überlebensgröße ersetzten, und indem sie die Hoffnung auf die Zukunft durch den gut begründeten Verdacht gegenüber den modernen Wiedergängern der Vergangenheit indirekt wach hielten.

Diese Vätergeneration wusste, dass wir keine Chance hatten, aber sie gaben uns den Auftrag, sie dennoch zu nutzen. Dies wurde zur Phrase, aber nicht deshalb falsch. Falsch, wenn auch nicht unwahr, wurde diese Lehre erst nach dem Jahr 1989, als die Welt die zweite große Befreiung erlebte, die sie theoretisch ersehnt, aber praktisch nicht mehr erwartet hatte, die praktisch das Verhängnis eines Jahrhunderts rückgängig, aber dessen Erlösung theoretisch erst recht unmöglich machte.

So problematisch die gespaltene Welt zuvor war, ihr Problem war nicht die Spaltung, sondern die Verrottetheit der Alternative, die sie bot. Aber es war noch eine Welt der Alternative, ein Bastard der Aufklärung, eine entmenschte, also immer noch den Menschen zuschreibbare Realität.

Vielleicht sehen Sie jetzt, worauf ich hinaus will: auf die Frage, womit "Engagement" handelt, unter Voraussetzungen, die sich diejenigen nicht vorstellen konnten, die den Begriff des Engagements definiert und, wie gebrochen und widersprüchlich auch immer, an uns weitergegeben haben.

Der Begriff "Gattung" war der erste Versuch, die Idee wie die Möglichkeit von Globalisierung auf den Begriff zu bringen, und dieser Begriff zeigt zugleich, dass die Idee ausging von den Interessen jener, die es betraf, der Menschen. Der Begriff "Globalisierung" aber machte und macht eben die "Gattung" zum Opfer einer Freiheit, die die entfesselte Freiheit einer Dingwelt ist, der die Gattung sich zu unterwerfen hat. Freiheit, das war doch Freiheit von Schicksal, der Anspruch auf Selbstbestimmung in Alternativen. Und jetzt sehen wir uns in einer Welt, die befreit von zwei globalen Tyranneien, eine Welt ohne Alternative wurde und daher zunächst nur frei ist von der Möglichkeit ihrer Befreiung.

Globalisierung - dieser Begriff kennzeichnet eine Realität, in der es zwar eindeutig Nutznießer und Opfer gibt, aber keine Verantwortlichen, keine Täter zu geben scheint. Was entschieden wird, wird "ohne Alternative" entschieden, also mit dem Gestus, vor der Geschichte nur noch zu administrieren, was sich zwangsläufig entwickelt, eine Befreiung, die in Anspruch, Logik und Ziel nicht mehr Befreiung der Gattung ist, sondern der Dingwelt, eine Entfesselung, die nicht so wie historisch eine Entfesselung der Produktivkräfte auch, sondern alleine die ihre ist, wobei die Menschen nichts anderes zu gewinnen haben als neue Fesseln, immer neue Zwänge.

Nicht dass es gesellschaftliche Widersprüche nicht mehr gäbe, aber es gibt sie nicht mehr im Bewusstsein und im politischen Handeln. In beiden Bereichen ist der Begriff des Widerspruchs durch den aus der Ökonomie kommenden Begriff "Konkurrenz" ersetzt worden. Es gibt also keine Widersprüche mehr im Sinn aufgeklärter Geschichtslogik, gesellschaftliche Widersprüche, die über Kämpfe zu einem Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit und zu entsprechendem politischen Handeln führten. Aus aufgeklärter Geschichtslogik wurde abgeklärte Unterwerfung unter Systemlogik, nur noch das besitzanzeigende Fürwort "sein" bestimmt das Bewusstsein jedes Konkurrenten.

Die Moderne, die einzige Geschichte, die für uns kein Kapitel der Vergangenheit, sondern fortwirkende, sozusagen historisch begründete Gegenwart und Zukunft war, 4. Spalte ist damit Geschichte geworden wie alle Geschichte davor, nämlich abgeschlossen, tot, fremd. Mit einer noch unerkannten Besonderheit: dass der Fortschritt, der sie im Einzelnen war, nicht begriffen sein will als der Rückschritt, der sie im Ganzen ist: Eine Welt ohne Alternative - das ist als Basis unseres Handelns und Denkens eine voraufklärerische Welt, eine Welt, die unsere Väter nicht kannten, und das meint etwas qualitativ ganz anderes, als dieser Satz für frühere Väter seit Beginn der Neuzeit bedeutet hatte.

Die Forderung an jeden einzelnen Menschen, in Alternativen zu denken, der Anspruch also, die Menschen von Schicksal zu befreien,- ist heute alternativlos zur Schicksalsfrage geworden, die Frage nämlich, ob es möglich ist, nicht "die Menschen", immer mehr Menschen, sondern die Gattung insgesamt vom Glauben an die Schicksalhaftigkeit ihres Tuns zu befreien. Wie vermittelt man eine Alternative, wenn es keine zu geben scheint?

Jeder Mensch hat sein Schicksal. Das war einmal. Das war vergleichsweise gemütlich, bis Auschwitz. Jetzt muss man sagen: Die Menschheit hat nichts als ein Schicksal. Das ist sehr alt und völlig neu. Das ist unerhört, weil wir es nie gehört haben von jenen, die uns gesagt haben, es ginge um die Selbstbestimmung der Menschen, also um die Vertreibung des Schicksals aus der Welt.

Was Anspruch zumindest eines Kontinents war, nämlich in Alternativen zu denken, ist weltweit aufgegangen in alternativloser Affirmation der absoluten Herrschaft von Sachzwängen - Globalisierung ist, so gesehen, also die technisch perfekte Restauration des Geists der Vorzeit der Neuzeit.

Als Entschädigung für den Verlust von Selbstbestimmung, sei es auch nur als Anspruch, wird uns Genügsamkeit auf höherem Niveau der Produktivkräfte angeboten - wir haben, scheint es, das Angebot angenommen. Wir fügen uns heute in ein Schicksal, das wir, als wir objektiv noch eines hatten, nicht anerkennen wollten. Verglichen mit der Zwangsläufigkeit, die der Globalisierung allgemein zugeschrieben wird, war Hegels Weltgeist ein Lufthauch.

Aber anders als bei Hegels Weltgeist, und erst recht anders als bei Marx' Geschichtsteleologie, wissen wir von der Zwangsläufigkeit der Globalisierung nicht, was am Ende stehen soll. Wir wissen nur dies: dass sie nicht so verlogen ist, am Ende, wenn schon nicht Freiheit, so zumindest "Wohlstand für alle" zu versprechen. "In zweihundert Jahren wird es keinen Winkel der Welt mehr in Armut und Elend geben!" - das verspricht die Globalisierung nicht.

Sie erpresst uns nicht mit Zukunft. Sie erklärt nicht die Notwendigkeit heutigen Leidens mit der Perspektive der Befreiung späterer Generationen, sie erklärt heutiges Leiden gar nicht, sie erpresst uns mit Gegenwart. Das heißt mit historischer Alternativlosigkeit, Schicksal.

Was haben wir heute, nach der Zerstörung des Schicksals und nach der Zerstörung der Mittel zur Zerstörung des Schicksals, dem globalisierten Schicksal entgegenzusetzen? Zunächst einmal diese Frage. Und was kann Literatur dazu tun? Was kann sie formulieren? Heute erstmals die Frage.

Der Text wurde abgedruckt in DER STANDARD vom 29./30. 11. 2003 und in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 29./30. 11. 2003

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